Rätoromanische Sprachen

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Rätoromanische Sprachen

Gesprochen in

Italien, Schweiz
Sprecher ca. 1.000.000
Linguistische
Klassifikation
Verbreitungsgebiete der rätoromanischen Sprachen

Als rätoromanische Sprachen – manchmal auch Alpenromanisch – wird eine Gruppe romanischer Sprachen in der Schweiz und Italien bezeichnet, nämlich Bündnerromanisch (im Schweizer Kanton Graubünden), Dolomitenladinisch (im Dolomitengebiet) und Friaulisch (in Friaul).

Die Frage, ob diese drei Sprachen, die kein zusammenhängendes Sprachgebiet besitzen, eine genetische Einheit innerhalb des Romanischen bilden, wurde lange diskutiert und ist bis heute nicht entschieden. Von den Gegnern dieser Einheit wird meist auch die Bezeichnung „rätoromanisch“ als zusammenfassende Bezeichnung der drei Sprachen abgelehnt, stattdessen verwenden sie diese Bezeichnung ausschließlich für das Bündnerromanische. Der Begriff „Rätoromanisch“ wurde im späten 19. Jahrhundert vom Romanisten Theodor Gartner bekannt gemacht, wo er im Titel seiner Raetoromanischen Grammatik von 1883 und seines Handbuchs der rätoromanischen Sprache von 1913 erscheint.[3] Verwendet wurde er allerdings schon Jahrzehnte vorher, zum Beispiel in Otto Carischs Grammatischen Formenlehre von 1851, wo von der «rhätoromanischen Sprache» die Rede ist.[4] Er geht auf den Namen der römischen Provinz Raetia zurück.

Innerhalb der Romania werden die rätoromanischen Sprachen angesichts ihrer klaren Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit ihren galloromanischen und norditalienischen/galloitalischen Nachbarsprachen (insbesondere dem Lombardischen) bisweilen der Galloromania zugeordnet.[1]

Questione Ladina

Die Diskussion über Art und Grad der Verwandtschaft dieser drei Sprachen bildet den Kern der Questione Ladina. Vereinfachend lassen sich die gegensätzlichen Positionen wie folgt beschreiben:

  • Es gibt eine genetische Einheit der Sprachen Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch, also eine unità ladina (italienisch für „ladinische Einheit“). Rätoromanisch bezeichnet in diesem Fall eine klar definierte genetische Untereinheit des Romanischen.
  • Eine solche genetische Einheit existiert nicht, da die drei Dialektgruppen keine gemeinsamen Innovationen bzw. definierenden linguistischen Merkmale aufweisen, die sie hinlänglich von anderen romanischen Varietäten unterscheiden. Rätoromanisch bezeichnet dann lediglich eine Restgruppe alpenromanischer Varietäten, die nicht Dialekt einer der großen romanischen Kultursprachen Italienisch oder Französisch sind. (Für manche Autoren verliert die Bezeichnung damit ihre Berechtigung.)

Man kann die drei rätoromanischen Idiome, die kein zusammenhängendes Sprachgebiet besitzen, als Restdialekte des Latein der römischen Provinz Raetia ansehen, welche sich keiner anderen romanischen Sprache zuordnen oder als deren Dialekt einstufen lassen (Französisch, Italienisch). In der Tat entwickelten sich die rätoromanischen Mundarten weitgehend unabhängig von den benachbarten romanischen Kultursprachen und standen mit diesen seit der Römerzeit nur wenig oder gar nicht in Wechselwirkung.

Im nicht linguistischen Sprachgebrauch der Schweiz bezieht sich „Rätoromanisch“ ausschließlich auf das Bündnerromanische, wobei die alpinlombardischen Dialekte der Bündner Südtäler Bergell, Puschlav, Misox und Calanca nicht mitgemeint sind. In diesem Artikel werden die rätoromanischen Sprachen im weiteren Sinne der Romanistik betrachtet, ohne damit eine Entscheidung in der Frage der genetischen Einheit der drei Sprachen oder Dialektgruppen zu treffen.

Gliederung

Datei:Karte Sprachen Graubünden.png
Verbreitungsgebiet der einzelnen romanischen Idiome in Graubünden

Die drei rätoromanischen Sprachen weisen – unabhängig von der Frage ihrer genetischen Einheit – folgende dialektale Gliederung auf:

Bündnerromanisch

Ladinisch

  • Maréo/Badiot (Ennebergisch/Abteitalisch)
  • Gherdëina (Grödnerisch)
  • Fascian (Fassanisch)
  • Anpezan (Ampezzanisch)
  • Fodom (Buchensteinisch)
  • Låger (Laager)
  • Nones (Nonsbergerisch)
  • Solander (Sulztaler)

Furlanisch oder Friaulisch (Furlan)

Eine vorläufige phylogenetische Klassifizierung,[5] die auf einer Grundwortschatzanalyse beruht, identifiziert eine primäre Aufspaltung in Bündnerromanisch in der Schweiz und Ladinisch in Italien. Des Weiteren zeigt die Analyse eine sekundäre Trennung innerhalb der Schweiz zwischen Engadinisch und den übrigen bündnerromanischen Sprachen. In Italien zeigt sich ebenfalls eine sekundäre Trennung, und zwar offensichtlich bedingt durch das Dolomitengebirge, das Ladinisch in einen nördlichen und einen südlichen Zweig unterteilt, wobei Friaulisch dem südlichen Zweig zugeordnet wird.

In dieser Studie beträgt die Divergenz der rätoromanischen Sprachen von ihrem rekonstruierten lexikalischen Vorfahren im Durchschnitt etwa 7 %. Dieses entspricht einer Zeittiefe von etwa 500 Jahren, wenn die (umstrittene) glottochronologische Zerfallsrate von 14 % pro Jahrtausend zutrifft. Jedoch ist der früheste vorhandene alpinromanische Text etwas älter und wird auf etwa 1200 datiert.[6]

Siehe auch

Literatur

  • Georg Bossong: Die romanischen Sprachen. Eine vergleichende Einführung. Buske, Hamburg 2008, ISBN 978-3-87548-518-9 (+ 1 CD-ROM).
  • Martin Harris, Nigel Vincent (Hrsg.): The Romance Languages. Routledge, London 2000, ISBN 0-415-16417-6 (Nachdr. d. Ausg. London 1988).
  • Ricarda Liver: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. 2. Aufl. Narr, Tübingen 2010, ISBN 978-3-8233-6556-3.
  • Lorenzo Renzi: Einführung in die romanische Sprachwissenschaft („Introduzione alla filologia romanza“, 1978). Narr. Tübingen 1981, ISBN 3-484-50139-1.
  • Carlo Tagliavini: Einführung in die romanische Philologie („Le origini delle lingue neolatine“, 1972). Francke, Bern 1998 (Erstauflage 1973).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Ricarda Liver: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1999, ISBN 3-8233-4973-2, 7. Das Bündnerromanische in der Romania, S. 165 (google.de).
  2. Horst Geckeler, Dieter Kattenbusch: Einführung in die italienische Sprachwissenschaft. 2. Aufl., Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 1992, S. 1f. – Romanistische Arbeitshefte 28, herausgegeben von Gustav Ineichen und Bernd Kielhöfer.
  3. Georg Bossong: Die romanischen Sprachen. Eine vergleichende Einführung. Buske, Hamburg 2008, S. 174.
  4. Otto Carisch: Grammatische Formenlehre der deutschen Sprache und der rhätoromanischen im Oberländer und Unterengadiner Dialekte für Romanische. Buchdruckerei von G. Hitz, Chur 1851.
  5. Peter Forster, Alfred Toth, Hans-Jurgen Bandelt: Evolutionary Network Analysis of Word Lists: Visualising the Relationships between Alpine Romance Languages. Journal of Quantitative Linguistics 5: (1998) 174–187, doi:10.1080/09296179808590125.
  6. Theodor Gartner: Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur. Niemeyer, Halle 1910.