Raffaele Mattioli

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Raffaele Mattioli

Raffaele Mattioli (* 20. März 1895 in Vasto; † 27. Juli 1973 in Rom) war ein italienischer Bankier, Volkswirt und Verleger.

Nach dem Studium der Volkswirtschaft und einigen verschiedenen Tätigkeiten – u. a. als Journalist und Privatdozent – war Mattioli im Jahre 1925 in die Banca Commerciale Italiana (BCI) eingetreten und im Laufe der Zeit zu einem der führenden Bankiers in Italien aufgestiegen, als der er auch in der internationalen Finanzwelt ein hohes Ansehen besaß. Neben dem Bankgeschäft, in das er zufällig und nicht seiner eigentlichen Neigung folgend geraten war, hat Mattioli auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaft theoretisch gearbeitet und für deren Erforschung und Darstellung Einrichtungen wie Institute und Bibliotheken geschaffen und gefördert. Des Weiteren hat er sich auch erfolgreich als Verleger und Übersetzer mit hochstehender Literatur befasst.

Porträt von Raffaele Mattioli aus dem Jahr 1934 in seinem Büro
Fotografie

Link zum Bild
(Bitte Urheberrechte beachten)

Herkunft und Entwicklung

Vasto, Raffaele Mattiolis Geburtsort, liegt im Süden der Abruzzen in der Provinz Chieti am Adriatischen Meer. Die Region der Abruzzen, damals wie heute zu den ärmsten Gebieten Italiens gehörend, ist eine raue Bergwelt auf dem Höhenrücken des Apennin. (Aus solchen Landschaften kommen oft eigenwillige Charaktere; auch Gabriele d’Annunzio, der Dichter und Soldat, und Benedetto Croce, der Philosoph, kommen von dort.) Hier wuchs Raffaele zusammen mit zwei Brüdern auf. Der Vater, der ein recht weiser Mann gewesen ist, woran sich sein Sohn später im Leben noch oft mit Freude erinnert hat, war Kaufmann und betrieb einen kleinen Laden in Vasto. Zur Schule ging Raffaele in Chieti, eine Universitätsstadt südlich von Pescara. Im Herbst 1912 begann er eine Ausbildung an einer Höheren Handelsschule in Genua.

Raffaele Mattioli als Soldat irgendwo an der Front im Ersten Weltkrieg
Fotografie

Link zum Bild
(Bitte Urheberrechte beachten)

Als Italien im Mai 1915 aufseiten der Entente in den Ersten Weltkrieg eintrat, meldete sich Raffaele Mattioli freiwillig zum Militärdienst in der italienischen Armee. Er wurde Offizier, erlebte Fronteinsätze, bekam Auszeichnungen und erlitt Verwundungen.

Nach dem Krieg geriet er mit seiner Einheit nach Fiume, wo d’Annunzio im September 1919 sein Abenteuer in dieser kleinen Republik beginnen sollte. Die Beschwörung der Vergangenheit durch den Dichter sagte Mattioli aber nicht zu, und er nahm irgendwann seinen Abschied und begann in Genua an der dortigen Universität Volkswirtschaft zu studieren. Nachdem er das Studium im Dezember 1920 mit der Doktorwürde abgeschlossen hatte, ging er nach Mailand, dem Handels- und Finanzzentrum Italiens, wo er eine Zeitlang Redakteur in der Finanzzeitschrift Rivista Banearia, einem Blatt der italienischen Bankiersvereinigung, war.

Zuvor, wohl im Jahr 1919, hatte Raffaele Mattioli in Triest Emilia Tami geheiratet und war bald darauf Vater eines Sohnes geworden. (Emilia starb im Jahr 1923 und dieser Schicksalsschlag wird Mattioli nicht unerheblich zu tieferen Einsichten verholfen haben. Im Jahr 1928 ging er dann mit Lucia Mountains eine zweite Ehe ein, aus der zwei Söhne und eine Tochter hervorgingen.)

Im Jahr 1922 wurde Mattioli Privatdozent an der Luigi Bocconi Universität in Mailand, die in der Disziplin der Wirtschaftswissenschaften führend in Italien war. (Ein Kollege von ihm an der Fakultät war der Finanzwissenschaftler Luigi Einaudi, der im Jahr 1948 Präsident der italienischen Republik werden sollte; von 1917 bis 1926 war Angelo Sraffa, der Vater von Piero Sraffa, mit dem Mattioli befreundet war, Rektor der Universität.) Aber schon bald musste Mattioli, da er keine Neigung zum Faschismus hatte und sie auch nicht vortäuschen mochte, die Lehrtätigkeit wieder aufgeben. Das im Herbst 1922 errichtete Regime des Mussolini wollte die Jugend auch nicht im Geringsten einem Andersdenkenden anvertrauen und so durfte er keine Vorlesungen mehr halten. Mattioli musste die Universität aber nicht verlassen und arbeitete weiter als Assistent in einem von Einaudi eingerichteten Institut für Volkswirtschaft, wo er sich hauptsächlich um das Einrichten einer Bibliothek kümmerte und im Dialog mit anderen Wissenschaftlern und Persönlichkeiten (wie Piero Sraffa oder Carlo Rosselli) stand.

So um das Jahr 1924 herum eröffnete sich dann für Mattioli eine neue Möglichkeit: Die Handelskammer von Mailand schrieb die Stelle eines Generalsekretärs aus und aus intellektueller Neugierde — «Ich war der Meinung, dass ich nun einmal genug Theorie gesehen hatte, und ich wollte mal schauen, ob die Theorie mit der täglichen Wirtschaftspraxis übereinstimmt. Im Idealfalle sollten ja Theorie und Praxis identisch sein.» — bewarb er sich um die Stelle und bekam sie. Aber kaum hatte er sich mit der neuen Stelle etwas vertraut gemacht, als ihm von dem damaligen Chef der Banca Commerciale Italiana, Giuseppe Toeplitz, die Stelle eines Privatsekretärs angeboten wurde mit der Verlockung, weiter in der BCI aufzusteigen. Doch Raffaele Mattioli zögerte zunächst, denn sein eigentliches Berufsziel war nach wie vor, im akademischen Betrieb zu arbeiten und ein Professor für Volkswirtschaft zu werden, und er hoffte immer noch, dass das eines Tages wieder möglich sein würde. Außerdem war zu erwarten, dass ihm die neue Arbeit kaum Zeit für seine Studien lassen würde. Schließlich aber siegte auch hier bei ihm die Wissbegierde, etwas kennenzulernen, was völlig neu für ihn war, und er nahm das Angebot von Toeplitz an und trat im November 1925 in die Banca Commerciale Italiana ein.

Literatur und Bilanzen

Mailand 1926: Raffaele Mattioli im Kreis des Führungsstabes der Banca Commerciale Italiana
Fotografie

Link zum Bild
(Bitte Urheberrechte beachten)

In seine neue Aufgabe soll sich Raffaele Mattioli, wie es heißt, erstaunlich schnell hineingefunden haben und schon bald seinem Chef mit ehrerbietiger Überlegenheit — «con defente superità» — begegnet sein. Giuseppe (Joseph) Toeplitz, von polnischer Abstammung, war ein umtriebiger Geist mit großer Menschenkenntnis und allerhand Geschick, aber er blieb im Bankgeschäft immer ein Amateur, während Mattioli nach einigen Jahren ein Professioneller darin geworden war. Und so vollzog sich denn im Jahre 1931 eine Wachablösung: Giuseppe Toeplitz ging in den Ruhestand und Raffaele Mattioli wurde zu einem der beiden Generaldirektoren ernannt, die von nun an für die Geschäfte der Bank verantwortlich waren. Zwei Jahre später schied der andere Generaldirektor aus und Mattioli, gerade 38 Jahre alt, wurde alleiniger Chef der BCI, was er dann beinahe vierzig Jahre lang bleiben sollte.

Diese neue Verantwortung (wie auch die schon davor) verlangte viel von Mattioli. Es war eine aufreibende Tätigkeit, wie er sich später erinnerte, die solide Kenntnisse des Bankwesens, starke Nerven und unendlich viel Geduld erforderte. Manchmal wusste er nicht, ob die BCI noch weiter machen könnte, denn das ganze italienische Bankwesen steckte damals in einer tiefen Krise: Die Bankiers beherrschten das Geld nicht mehr, sondern sie ließen sich vom Geld beherrschen und waren daher in große Schwierigkeiten geraten. Die Lage wurde schließlich so bedrohlich, dass der italienische Staat sich gezwungen sah, einzugreifen, denn eine Finanzkrise mit ihren Folgen ist für eine Diktatur noch sehr viel gefährlicher als für eine Demokratie. Die drei großen Banken — das waren neben der Banca Commerciale Italiana die Credito Italiana und die Banca di Roma — wurden mit staatlich Bürgschaften gestützt und im März 1936 trat ein umfangreiches Gesetzeswerk in Kraft, das die Strukturen der großen Banken grundlegend veränderte. So wurde u. a. eine Trennung zwischen Privatbank- und Geschäftsbankbereich eingeführt und die Banken mussten sich für einen Bereich entscheiden, in dem sie zukünftig arbeiten wollten, in beiden Bereichen gleichzeitig war jetzt verboten. Raffaele Mattioli hat später über diese Zeiten gesagt, dass er in ihnen klüger und trauriger geworden sei, aber auch reicher.

Im Jahre 1938 erwarb Mattioli den Verlag Riccardo Ricciardi, in dem er sich auch selbst als Verleger betätigte. Im Laufe der Zeit wurden unter seiner Regie u. a. Editionen der italienischen Klassiker herausgebracht. Dazu hat er aus der englischen Literatur u. a. die Sonette von Shakespeare, das Gedicht Kublai Khan von Coleridge und Gedichte von Keats ins Italienische übersetzt und wohl auch veröffentlicht. Seine Liebe zur Literatur, wozu auch philosophische Texte gehörten, färbte auch auf das ab, was er so sagte und schrieb. Seine Aussprüche klangen sehr oft paradox und wurden von den Leuten nicht verstanden, was ihm aber ganz recht war. Seine (späteren) Jahresberichte in den Hauptversammlungen der Banca Commerciale Italiana enthielten viele philosophische Passagen und rätselhafte Gedanken, die die Zuhörer verwirrten, aber auch faszinierten. Für Raffaele Mattioli war alles, womit er sich abgab, eine schöpferische Sache und so gab es für ihn keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem Sonett von Shakespeare und einer Bilanz.

Dem faschistischen Regime in Italien hat Mattioli immer distanziert gegenübergestanden. Sehr skeptisch ist sein Verhalten auch gegenüber der Kirche gewesen, insbesondere zum Vatikan, in dessen Kreisen er der Ketzer-Bankier — «banchiere eretico» — genannt wurde. — Seine Nächstenliebe und Toleranz hat dieser außergewöhnliche Mensch auf seine Art gezeigt: Wo es in seiner Macht stand half er politisch Verfolgten wie zum Beispiel dem Kommunisten Antonio Gramsci, einem schwerkranken Mann, dessen Klinik-Kosten Mattioli beglich und auch dabei behilflich war, die im Gefängnis entstandenen Manuskripte, die sogenannten Gefängnishefte, in Sicherheit zu bringen. Er hat auch einer Reihe von Menschen, die in Schwierigkeiten wegen ihrer politischen Haltung waren, Zuflucht in der Bank gewährt und jüdische Mitarbeiter in ausländische Filialen geschickt.

Im Zweiten Weltkrieg wurde Mattioli auch politisch aktiv in einer im Juli 1942 gegründeten Partei, der Partito d’Azione (Aktionspartei), deren Mitglieder den Klassenkampf überwinden und einen liberalen Sozialismus verwirklichen wollten. (Die Wirkung dieser Partei ist aber nicht sehr groß gewesen und sie ist schon im Jahre 1946 wieder aufgelöst worden.) — Nach dem Krieg beteiligte sich Mattiolis BCI zusammen mit den beiden anderen großen Banken an der Gründung der Banca di Credito Finanziario, kurz Mediobanca genannt, die mittelfristige Kredite (ein bis vier Jahre lang) und langfristige Finanzkredite gewährte. Die Mediobank war die erste italienische Investmentbank und ihr erster Generaldirektor ist Enrico Cuccia gewesen, ein anderer großer Bankier Italiens. Bald nach dem Krieg war es auch, dass Mattioli Enrico Mattei, einem dynamischen Unternehmer, der damals Bevollmächtigter der Agip war und Kapital brauchte, um Erdgaslager in der Po-Ebene auszubeuten, einen Milliarden-Kredit gab. Die Kreditvergabe, die ein hohes Risiko war, ermöglichten es Mattei, seine Visionen zu verwirklichen. (Mattei hat später den internationalen Ölmarkt noch in so manche Aufregung versetzt und ist im Oktober 1962 bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.)

Im Jahr 1972 schied Raffaele Mattioli (nicht ganz freiwillig) aus der BCI aus. Den Titel eines Ehrenpräsidenten, den man ihm antrug, lehnte er ab. Ein Jahr später starb er in Rom und wurde in der Abbazia di Chiaravalle, einem Zisterzienserkloster in Mailand, beigesetzt. Die Wahl der Begräbnisstätte erregte allgemeine Verwunderung, aber Raffaele Mattioli, in seinem Leben ja schon oft sehr rätselhaft, ist es auch hier zum letzten Mal noch einmal gewesen.

Einige mattiolische Aussagen

  • «Heute gehört es schon beinahe zum guten Ton vorzugeben, man wisse über alles Bescheid. Mein Vater sagte mir immer: ‹Scheue dich nicht zu sagen, dass du irgendeine Sache nicht kapierst — besonders dann, wenn du ziemlich viel davon verstehst.›.» (Die Worte des Vaters reichen zweifellos an die Denkweise eines Kungfutse heran.)
  • «Als Bankier wird man ein Mann der schönen Künste, ein Kritiker und ein Schöpfer.»
  • «Keine Statistik kann die einzigartige Operation des menschlichen Gehirns ersetzen. Die Tätigkeit des Menschen muss stets das dominierende Element bleiben ... Eine große Gefahr der Maschinen liegt darin, dass sie das menschliche Element ignorieren. Sie reduzieren den Menschen zu einer bloßen Zahl und tragen damit schon den Ansatz zu Fehlinterpretationen in sich.»
  • «Wir betreiben eine praktische Tätigkeit von rein intellektueller Prägung: ein Versuch, die Abstraktheit einer mechanischen Ordnung mit der Realität einer biologischen Ordnung zu vereinen.»
  • «Ein Bankier darf nie die Herrschaft über das Geld verlieren. Wenn er jemals zulässt, dass das Geld von ihm Besitz ergreift, dann wird er Schwierigkeiten haben. Außerdem sollte ein Bankier sich stets die Worte des Kardinals Borromeo vor Augen halten, dass es nämlich keine Autorität gibt, ohne den Dienst an anderen.»

Literatur

Weblinks