Investitionsstau

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Ein Investitionsstau liegt vor, wenn anstehende fällige Investitionen durch den Investor unterlassen werden.

Allgemeines

Als Investoren kommen Privathaushalte, Unternehmen und der Staat mit seinen Staatsunternehmen in Frage. Der Investitionsstau betrifft alle Investitionsarten, also Erweiterungs-, Ersatz- oder Rationalisierungsinvestitionen. Bei Unternehmen gehören auch die immateriellen Investitionen (Forschung und Entwicklung) zu den Investitionen. Ihre betriebswirtschaftliche oder volkswirtschaftliche Kennzahl ist die Forschungsquote (F&E-Quote). Die Investitionstätigkeit ist von herausragender Bedeutung für das Wirtschaftswachstum eines Landes[1] oder das Unternehmenswachstum. Das Unternehmenswachstum ist eng mit der Investitionspolitik verknüpft, weil sich das Wachstum in neuen Investitionen konkretisiert; über die Investitionen ergibt sich auch ein Zusammenhang mit der Abschreibungspolitik.[2] Ein Investitionsstau offenbart deshalb Schwächen für ein nachhaltiges Wachstum.

Dabei stellt das Wort Investitionsstau eher eine Metapher (aus „Verkehrsstau“) dar, denn die Streitfrage, wann eine Investition vorgenommen werden müsste und nicht mehr aufgeschoben werden kann, aber dennoch nicht vorgenommen wird, ist schwer zu beantworten. Am ehesten ist diese Feststellung bei der Ersatzinvestition möglich. Sie steht an, wenn beispielsweise eine Maschine abgenutzt oder funktionsuntüchtig ist und – zur Vermeidung von Betriebsstörungen oder Fehlmengen – ersetzt werden muss. Geschieht dies nicht, liegt ein Investitionsstau vor. Bei Erweiterungs- oder Rationalisierungsinvestitionen dagegen ist der Investitionsstau schwieriger feststellbar. Werden Erweiterungsinvestitionen nicht vorgenommen, kann die Nachfrage nicht mehr vollständig bedient werden, es treten Fehlmengen auf. Ausbleibende Rationalisierungsinvestitionen machen sich durch erhöhte Wartungs- oder Personalkosten oder steigende Ausfallraten bemerkbar. Die Unterarten Modernisierungsstau und Sanierungsstau lassen darauf schließen, dass mögliche Modernisierungen nicht vorgenommen oder notwendige Sanierungen unterlassen werden.

Die klassische Bilanztheorie geht davon aus, dass es grundsätzlich notwendig sei, Investitionen in Höhe der jeweiligen Abschreibungen vorzunehmen, um eine gleichbleibende Substanzerhaltung zu betreiben. Liegen die Investitionen niedriger, stelle dies Desinvestition dar. Um die Produktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten, müssen mindestens Investitionen in Höhe der Ersatzinvestitionen getätigt werden.[3] Ist eine Desinvestition nicht erwünscht, so sind die notwendigen Investitionen zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen.

Ursachen

Investitionsstaus sind auf fehlende Investitionsentscheidungen, ungünstiges Investitionsklima oder fehlende bzw. unzureichende Finanzierung (Eigen- und Fremdfinanzierung) zurückzuführen.[4] Die Finanzierung stellt häufig einen Engpass dar, wenn Eigenkapital und/oder Fremdkapital nicht oder nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen und die Investitionsausgaben nicht decken. Das hieraus resultierende Finanzrisiko hemmt die Investitionstätigkeit. Investitionsentscheidungen werden nicht getroffen, weil sich der Entscheidungsträger entweder nicht bewusst ist, dass eine Entscheidung ansteht oder er noch entscheidungsrelevante Informationen sammelt. Das Investitionsklima betrifft die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Absatzplanung und Absatzrisiko, Konjunkturlage, Kreditklemme, Lagerrisiko, Steuerpolitik, Zinsniveau).

Weitere Gründe für Investitionsstaus können die gesetzlichen Rahmenbedingungen sein, wenn Gesetze oder Verwaltungsvorschriften (etwa im Baurecht), die eine staatliche Erlaubnis für bestimmte Investitionen vorsehen (Baugenehmigung), die Investition verzögern oder sogar verhindern.

Investitionsstau in der Privatwirtschaft

Die Investitionsneigung der Unternehmen hängt auch stark von der Konjunktur ab.[5] Bei beginnender Rezession tendieren Unternehmer dazu, geplante Investitionen zurückzustellen oder gar nicht vorzunehmen, bei sich abzeichnendem Aufschwung oder Expansion neigen sie sogar zum Vorziehen von Investitionen. Eine Erhöhung der Investitionsneigung wirkt expansiv auf das Volkseinkommen.[6] Vor allem spielen Investitionsstaus bei Forschung und Entwicklung eine Rolle, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verringern, wenn technologischer Fortschritt nur von der Konkurrenz wahrgenommen wird. Daher führen Investitionsstaus zu geringerem Absatzvolumen, sich verringernden Marktanteilen und behindern das Ziel der Gewinnmaximierung. Langfristig fehlt es an Produktinnovationen.

Bei der Unternehmensbewertung spielen die Einzahlungsüberschüsse des Unternehmens eine zentrale Rolle. Während im Substanzwertverfahren ein Investitionsstau über die niedrigeren Buchwerte der Anlagen automatisch zu einer Reduzierung des Unternehmenswertes führt, muss beim Ertragswertverfahren darauf geachtet werden, dass der Gewinn nicht durch einen Verzicht auf notwendige Investitionen überzeichnet wird. Ein deutlich von 1 abweichendes Marktwert-Buchwert-Verhältnis kann ein Hinweis auf einen Investitionsstau sein.

Investitionsstau beim Staat

Der Staat sollte im Rahmen seiner Wirtschaftspolitik antizyklisches Investieren zum Staatsziel haben. Investive Staatsausgaben (etwa Infrastruktur, Straßenbau, sozialer Wohnungsbau) sollten deshalb bevorzugt in der Rezession vorgenommen werden. Bei hoher Staatsverschuldung sind jedoch der Finanzierung Grenzen gesetzt und negative Primärsalden unerwünscht, sodass Staatsinvestitionen im Rahmen der Austerität nicht stattfinden. Die Folge sind marode oder baufällige Infrastruktur (Straßenschäden auf Autobahnen, Bundesstraßen, Sanierungsbedarf bei öffentlichen Einrichtungen auch in den Gemeinden). Während 1980 die kommunalen Sachinvestitionen knapp dreimal so hoch waren wie die Sozialhilfeausgaben, stieg der Anteil letzterer am Verwaltungshaushalt von 13,7 % im Jahre 1982 auf 21,3 % im Jahre 1995.[7] Die steigenden Sozialhilfeausgaben behindern damit die kommunalen Sachinvestitionen.

Das gilt auch beim Bund. Beispielhaft ist der Bau des Fehmarnbelttunnels, den das dänische Parlament am 28. April 2015 genehmigte; eine Baugenehmigung auf deutscher Seite wurde erst am 3. November 2020 erteilt. Hier lag ein Investitionsstau bei einer Erweiterungsinvestition vor, denn die vorhandene dänische Genehmigung ließ auch eine zeitnahe deutsche Entscheidung erwarten. Fehlende Haushaltsmittel sind auch der Grund für die seit November 2012 bekannten Schäden der Rheinbrücke Leverkusen, die neu gebaut werden muss.

Zwischen 1996 und 2016 sank der Anteil der investiven Ausgaben am deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,5 auf nur noch 2,12 Prozent. Die Mitgliedstaaten der OECD wenden im Schnitt hingegen mehr als drei Prozent für Investitionen auf.[8] Deutschlandweit wird der Investitionsstau auf 1,4 Billionen Euro geschätzt.[9] Alleine auf kommunaler Ebene betrug 2018 der Investitionsstau 158,8 Mrd. Euro.[10] Er sank zwar 2019 auf 138,4 Mrd. Euro (darunter Schulen 42,8 Mrd. €, Straßen 36,1 Mrd. € und Verwaltungsgebäude 14 Mrd. €), liegt aber unverändert auf hohem Niveau.[11] Die Deutsche Bahn geht von einem Investitionsstau von 57 Mrd. Euro aus, davon 50 Mrd. Euro im Netz und 7 Mrd. bei Bahnhöfen.[12]

Insbesondere sozialistische Staaten weisen typischerweise einen hohen Investitionsstau auf. In diesen Zentralverwaltungswirtschaften, legt der Staat den Anteil des Bruttosozialprodukte selbst fest, der für Konsum genutzt wird und damit auch den Rest, der investiert werden soll. Um ein relativ hohes Konsumniveau zu erreichen, müssen daher die Investitionen reduziert werden. So führte die Wirtschaftspolitik der DDR ab 1971 („Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“) dazu, dass der Anteil der Konsumtion am Nationaleinkommen von 1970 bis 1987 von 71,0 % auf 78,5 % stieg. Dementsprechend ging der Anteil der Nettoinvestitionen am im Inland verwendeten Nationaleinkommen im gleichen Zeitraum von 24,6 % auf 18,8 % zurück[13]. Dies führte zur Verschlechterung des Zustandes der Infrastruktur und zum Zurückbleiben gegenüber dem internationalen Niveau.

Gesamtwirtschaftlicher Investitionsstau

Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene kann es aus bilanztheoretischer Sicht in einer Marktwirtschaft zu einem Investitionsstau kommen, wenn administrierte Preise unterhalb der Marktpreise festgelegt werden (Höchstpreise). Da in diesem Fall die Produktion der entsprechenden Güter und Dienstleistungen nicht mehr lohnend ist, wird die Investition in Anlagen zur Herstellung dieser Güter reduziert. Die bestehenden Kapazitäten werden weiter genutzt, verfallen aber mangels Ersatzinvestitionen. Ein typisches Beispiel sind die Wohnungsmärkte. Vielfach wurden die Mietpreise hier künstlich niedrig festgelegt. Die Folge war eine Reduzierung der Wohnungsbauinvestitionen, obwohl dies politisch eigentlich nicht das Ziel war. Zur Überwindung von Investitionsstaus können, so Peter Bofinger, „konjunkturgerechte Wachstumsprogramme“ dienen.[14]

Auch der dauerhaft starke Exportüberschuss der deutschen Wirtschaft kann als ein Investitionsstau im Inland interpretiert werden.[15]

In der Zentralplanwirtschaft verhält es sich anders. Hier werden nicht nur Preise administrativ festgelegt, sondern auch das Investitionsvolumen der vergesellschafteten Ökonomie zentral gesteuert. Künstlich niedrig gehaltene Mietpreise etwa in der DDR führten keineswegs zu einer Reduktion der Wohnungsbauinvestitionen. Jedoch war die Investitionskraft des Staates insgesamt relativ gering, sodass Investitionen etwa zur Sanierung von Altbaubeständen oft zurückgestellt werden mussten. Ein Investitionsstau kann demnach also sehr unterschiedliche, komplexe Ursachen haben.

Statistik

Die Investitionsquote ist ein Indiz für die Investitionsfreudigkeit der Wirtschaftssubjekte. Die Bruttoanlageinvestitionen werden dabei dem Bruttoinlandsprodukt (oder Volkseinkommen) gegenübergestellt. Bei den Staatsinvestitionsquoten führte 2016 mit 35,7 % Irland, gefolgt von der Türkei (29,3 %), Norwegen (25,3 %) oder Tschechien (24,9 %). Deutschland lag mit 20,9 % knapp oberhalb des EU-28-Medians von 19,9 %.[16] Auch bei Unternehmen verringerte sich die Investitionsquote. Lag die Nettoinvestitionsquote im Jahre 1992 noch bei 9,2 %, so sank sie über die Jahre kontinuierlich auf 2,6 % (2017).[17] Bei den Forschungsquoten führte 2016 weltweit Südkorea (4,23 %), gefolgt von Japan (3,29 %), Schweden (3,25 %), Österreich (3,09 %), Deutschland (2,94 %), Dänemark (2,87 %) oder USA (2,79 %).[18] Staaten oder Unternehmen mit kontinuierlich geringeren Investitionsquoten verlieren langfristig den Anschluss an die internationale Entwicklung.

Einzelnachweise

  1. Georg Milbradt/Gernot Nerb/Wolfgang Ochel/Hans-Werner Sinn, Der ifo Wirtschaftskompass: Zahlen - Fakten – Hintergründe, 2011, S. 14
  2. Karl Hax/Erwin Geldmacher, Industriebetrieb und industrielles Rechnungswesen, 1961, S. 9
  3. Reinhard Schneider, Globalisierung und Wohlstand, 2008, S. 44
  4. Wilhelm Schmeisser/Lydia Clausen/Gerfried Hannemann (Hrsg.), Bankcontrolling mit Kennzahlen, 2009, S. 59
  5. Elfried Peffgen/Werner Vomfelde, Einführung in die Konjunkturpolitik, 1977, S. 42
  6. Konjunktur und Krise, Bände 5–6, 1961, S. 266 ff.
  7. Hermann Hill, Das nächste Jahrhundert - Ein Jahrhundert der Kommunen, in: Klaus Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung 50 Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1997, S. 346
  8. Handelsblatt vom 2. Dezember 2018, Wie der Investitionsstau Deutschlands Infrastruktur lähmt
  9. Die Welt vom 15. Juni 2018, Das 1,4 Billionen-Loch gefährdet Deutschlands Erfolg
  10. Handelsblatt vom 27. August 2019, Investitionsstau in Städten und Kommunen erreicht Rekordniveau
  11. Deutsches Institut für Urbanistik vom 12. Juni 2019, KfW-Kommunalpanel 2019: Investitionsrückstand der Kommunen in Deutschland beträgt 138 Mrd. Euro
  12. Frankfurter Allgemeine vom 4. März 2019, 57 Milliarden Euro Investitionsstau
  13. Statistisches Taschenbuch der DDR 1988, Staatsverlag der DDR 1988, S. 28, 110 und 111
  14. Carsten Brönstrup/Amory Burchard/Susanne Vieth-Entus/Rainer Woratschka: Wo ist der Investitionsstau am größten? Deutschland ist in einer Rezession. Staatliche wie private Investitionen könnten helfen. Aber wohin müsste das Geld fließen?, Der Tagesspiegel Online vom 14. Dezember 2008
  15. WirtschaftsWoche vom 6. Mai 2015, Stefan Bielmeier, Deutscher Exportüberschuss bremst Investitionen
  16. Wirtschaftskammer Österreich, Statistik, November 2018
  17. Statistisches Bundesamt vom 30. November 2018, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, S. 11
  18. Kleine Zeitung vom 1. Dezember 2017, Österreich bei Forschungsquote EU-weit auf Platz Zwei