Tübinger Vertrag
Der Tübinger Vertrag wurde am 8. Juli 1514 zwischen den württembergischen Landständen und Herzog Ulrich geschlossen. Mit dem Vertrag sicherte sich der in die Defensive geratene Herzog die Unterstützung der sogenannten Ehrbarkeit (Patriziat) bei der Niederschlagung der Rebellion des Armen Konrads.[1]
Hintergrund
Da der hoch verschuldete Herzog Ulrich die Rebellion des Armen Konrads nicht unmittelbar niederschlagen konnte, stellte er den Aufständischen aus der Unterschicht einen Landtag in Aussicht, auf dem sie ihre Anliegen vorbringen könnten. Nachdem sich die zugespitzte Lage darauf entspannt hatte, brach der Herzog jedoch sein Wort: Er berief diesen Landtag am 16. Juni ins linientreue Tübingen statt nach Stuttgart ein und ließ dafür ausschließlich Vertreter der Ehrbarkeit und kaiserliche Vermittler zu. Die nunmehr schriftlich einzubringenden Forderungen der rebellischen Unterschicht wurden zu Beginn der Konferenz zwar verlesen, aber weitestgehend ignoriert. Mit dem Tübinger Vertrag bekam der Herzog die nötigen Mittel an die Hand, um erneut aufbegehrende Widerstandsgruppen zu „stillen“ und ihre Anführer zu sanktionieren.
Vertragsinhalt
Im Tübinger Vertrag verpflichtete sich der Herzog, Fragen der Steuererhebung, von Landesverteidigung und Kriegswesen sowie den Verkauf von Landesteilen nur noch mit Zustimmung der Landstände zu regeln. Weiter wurde die „grundherrliche Abzugssteuer“ abgeschafft, wodurch die freie Ausreise ermöglicht wurde. Der Vertrag sicherte allen Bewohnern bei Strafprozessen ein ordnungsgemäßes Verfahren zu. Im Gegenzug verpflichteten sich die Landstände für mindestens 40 Jahre, für die Schulden des Herzogs aufzukommen. Dabei ging es um die ungeheuerlich anmutende Summe von 920.000 Gulden. Außerdem wurde dem Herzog aufgrund der jüngsten Erfahrungen die Einführung eines neuen Straftatbestandes zugestanden, der sich nicht nur zur Niederschlagung des Aufstands, sondern auch zur Durchsetzung eines absolutistischen Herrschaftsanspruches nutzen ließ: „Wer sich gegenüber der Obrigkeit – egal ob es fürstliche Räte, Amtleute, Geistlichkeit, Bürgermeister oder Stadtgericht – als ungehorsam erzaigt, habe Leib und Leben verwirkt.“[2]
Der Vertrag sicherte im Ergebnis die Privilegien der Ehrbarkeit, was der Grüninger Theologe Reinhard Gaißer, der intellektuelle Kopf des Armen Konrads, offen kritisierte.[3] Die von ihm eingeforderten Mitspracherechte blieben dem Gemeinen Mann bis ins 19. Jahrhundert verwehrt.
Rezeption
Tübingen, als Ort des Vertragsschlusses, darf seither die württembergischen Geweihstangen in seinem Stadtwappen führen. Für die Vertreter des Widerstands in den übrigen 14 württembergischen Landstädten des Unterlands, die sich in Marbach am Neckar versammelt und dort 41 Forderungen formuliert hatten, musste diese Wappenbesserung wie ein „Judaslohn“ wirken, zumal die emporgestreckten Arme den Eindruck erwecken konnten, als würde Tübingen die Niederschlagung des Aufstands bejubeln.
Der Vertrag gilt als das Verfassungsdokument im Herzogtum Württemberg und wurde lange als „württembergische Magna Carta“ herausgehoben, was heutige Historiker für überbewertet halten.[4] Der Theologe und Historiker Hellmut G. Haasis bezeichnet den Vertrag ganz im Sinne Reinhard Gaißers als „Schandwerk“, das „eine blutige Spur durch die Landesgeschichte“ gezogen habe. Er sieht keinen demokratischen Fortschritt, sondern einen Rückschritt auf Kosten der kommunalen Selbstbestimmung und der Versammlungsfreiheit. Mit dem „Empörerartikel“ hätte die Ehrbarkeit nicht nur die Anführer des Armen Konrads ans Messer geliefert, sondern den Gemeinen Mann seiner „Alten Rechte“ beraubt und absolutistischer Willkürherrschaft Tür und Tor geöffnet.[5]
Weiterführende Informationen
Quellen
- Online-Transkript des Tübinger Vertrags
- Johann Ulrich Steinhofer: Ehre des Herzogtums Wirtenberg in seinen Durchlauchtigsten Regenten – oder Neuen Wirtenbergischen Chronik Vierter Theil … (ab 1512) Stuttgart: Jenisch, 1755. Digitalisat
- Philipp Volland: Wie die Ufrur zu Grüningen sich zugetragen und welcher Gestalt der Pfarrer Renhart Gaißlin sich derselben tailhaftig gemacht [zur Kritik Reinhard Gaißers am Tübinger Vertrag]. Grüningen 1514 (Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 348, Bü 7)
Literatur
- Götz Adriani u. Andreas Schmauder (Hrsg.): 1514. Macht. Gewalt. Freiheit. Der Vertrag zu Tübingen in Zeiten des Umbruchs. Ostfildern 2014
- Walter Grube (Hrsg.): Der Tübinger Vertrag vom 8. Juli 1514. Faksimileausgabe aus Anlass der 450-Jahrfeier der Errichtung des Tübinger Vertrags. Kohlhammer, Stuttgart 1964
- Ludwig Friedrich Heyd: Ulrich, Herzog von Württemberg. Ein Beitrag zur Geschichte Württembergs und des Deutschen Reichs im Zeitalter der Reformation, Tübingen 1841. Band 1 (von 3), S. 228–383. Digitalisat
- Andreas Schmauder: Der Tübinger Vertrag und die Rolle Tübingens beim Aufstand des Armen Konrad 1514. In: Sönke Lorenz, Volker Schäfer (Hrsg.): Tubingensia : Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte; Festschrift für Wilfried Setzler. Thorbecke, Ostfildern 2008, ISBN 978-3-7995-5510-4, S. 187–208.
- Andreas Schmauder: Württemberg im Aufstand: Der Arme Konrad und der Tübinger Vertrag 1514. In: Rundbrief des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins (WGAV), Nr. 16, Oktober 2013, S. 1f.
- Andreas Schmauder u. Wilfried Setzler: Vor 500 Jahren: Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad und der Tübinger Vertrag von 1514. In: Schwäbische Heimat, Heft 1, 2014, S. 15–23.
- Wilfried Setzler: Geschichtliche Bedeutung. In: Der Tübinger Vertrag vom 8. Juli 1514. Hrsg. v. Bürger- und Verkehrsverein Tübingen [Beilage zur 100. Ausgabe der Tübinger Blätter]. Tübingen 2014. S. 27–31
- Georg M. Wendt: Geschickt taktiert? Die württembergische Ehrbarkeit und der Tübinger Vertrag. In: Momente – Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg, 2/2014, S. 7–9.
Anmerkungen
- ↑ Siehe dort auch den ausführlichen Abschnitt über den Tübinger Vertrag.
- ↑ Andreas Schmauder u. Wilfried Setzler: Vor 500 Jahren: Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad und der Tübinger Vertrag von 1514. In: Schwäbische Heimat, Heft 1, 2014, S. 15–23.
- ↑ Quelle: Philipp Volland: Wie die Ufrur zu Grüningen sich zugetragen und welcher Gestalt der Pfarrer Renhart Gaißlin sich derselben tailhaftig gemacht. Grüningen 1514 (Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 348, Bü 7)
- ↑ Zum Beispiel Wilfried Setzler: Geschichtliche Bedeutung. In: Der Tübinger Vertrag vom 8. Juli 1514. Hrsg. v. Bürger- und Verkehrsverein Tübingen. Tübingen 2014. S. 27–31.
- ↑ Haasis zum Tübinger Vertrag im Reutlinger Generalanzeiger vom 7. Juni 2014 und in der Südwestpresse vom 5. Juli 2014, S. 42