Üsküdar’a Gider İken
Üsküdar’a Gider İken („Auf dem Weg nach Üsküdar“), auch Kâtibim, ist ein populäres türkisches Vokallied, dessen Melodie über die Türkei hinaus in vielen Ländern, insbesondere der Balkanregion, verbreitet ist.
Geschichte
Der Fall der Melodie von Üsküdar’a Gider İken, die in den Sprachen der gesamten Balkanregion gesungen und jeweils von den entsprechenden Gemeinschaften für sich beansprucht wird, zog die Aufmerksamkeit verschiedener musikethnologischer und anderer Fachautoren auf sich wie etwa Raina Katsarova (1973), Adela Peeva (2003), Dorit Klebe (2004) oder Donna Buchanan (2008).[1][2]
Üsküdar’a Gider İken ist als städtisches Lied aus Istanbul bekannt und durchlief in seiner über 100-jährigen Geschichte verschiedene Stationen.[3] Es legte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine „beispiellose Wanderung“ (Buchanan 2007) durch die gesamte Balkanregion und mannigfache Diaspora-Gemeinschaften zurück.[4] Obwohl seine Geschichte nicht lückenlos dokumentiert ist, wurden anhand von Klang- und Schriftdokumenten einige bedeutende Veränderungen und Wandlungsprozesse nachgewiesen. Die Musikethnologin Klebe nannte als Einflussfaktor für die Wandlungen von Text, Musik und Formalgestalt den jeweilig unterschiedlichen Aufführungskontext sowie gesellschaftliche und soziokulturelle Entwicklungen.[3]
Als möglicher Entstehungspunkt des Liedes wird Istanbul im 19. Jahrhundert angesehen. Das Lied verbreitete sich über das geografische Gebiet seiner Frühdokumentation auch in andere Provinzen des Osmanischen Reiches – wie nach Griechenland und auf die Balkanhalbinsel – und erreichte auch Osteuropa. Zudem gelang der Melodie im 20. Jahrhundert die Verbreitung in die Unterhaltungsindustrie der USA.[3] Das Lied ist ein Beispiel dafür, dass urbane Melodien von verschiedener ethnischer Herkunft über die ganze Balkanregion hinweg gebräuchlich waren und verschiedene Transformationen durchlaufen haben.[5]
Früheste Dokumentationen
Als früheste zurückverfolgbare Tonaufnahme liegt eine gesangs-solistische Phonograph-Walzenaufnahme im Berliner Phonogramm-Archiv aus dem Jahre 1902 vor, die der Ethnologe, Archäologe und Arzt Felix von Luschan während seiner letzten Grabungskampagne in Sendschirli (Schreibweise nach von Luschan, 1904; heute Zincirli) in dem Sandschak Aintab (heute Gaziantep in der Türkei) des osmanischen Vilâyets Haleb (Aleppo in Syrien) trotz fehlender Erfahrung als wissenschaftliche Pionierleistung gelungen war.[3][6][7][8] Diese Aufnahme aus der Sammlung Luschan war von einem 12-jährigen armenischen Kleinkrämersohn mit Namen Avedis in türkischer Sprache gesungen worden. Die Walzenaufnahmen von Luschans, deren Kernstück die Lieder des Jungen Avedis bildeten, gehören zu den seltenen nicht-kommerziellen Zeugnissen der Vokalgattungen manî (spezielle Gattung der Volksliteratur zum gesungenen Vortrag), türkü (weitere Gattung der Volksliteratur bzw. -musik) und şarkı (osmanisch-türkische Vokalgattung der höfischen Kunstmusik) sowie ihrer Mischformen.[3]
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Aintab als bedeutender militärischer Punkt und Handelsplatz und besaß 20.000 Einwohner, zu gleichen Teilen armenische und griechische Christen, Kurden und Muslime. Als Quelle für das Repertoire des jungen Interpreten Avedis werden neben den üblichen familiären Informationsquellen auch professionelle Vortragssituationen in Erwägung gezogen. Aintab und Aleppo gehörten im Osmanischen Reich traditionell zu den musikalischen Zentren. Es war im Osmanischen Reich und besonders am Hof des Sultans nicht ungewöhnlich, dass in bestimmten Bereichen der Kunstmusik Künstler aus ethnischen Minderheiten – neben den armenischen besonders griechische und jüdische Musiker – kulturtragend in ausführender und weiterentwickelnder Weise tätig waren.[3]
Von Luschan gab seine türkischen Texte dem zu dieser Zeit in Berlin lebenden albanischen Gelehrten Hakki Tewfik Beg zur Korrektur der orthographischen Fehler. 1904 veröffentlichte von Luschan die Bearbeitung und Übersetzung des Textes von Üsküdar’a Gider İken, die er mit Fußnoten versah und die unter Mithilfe von Hakki Tewfik Beg und Anderen zur von Luschan Stambuler Fassung genannten Version ergänzt worden war.[3]
Frage nach der Ursprungsmelodie
Für einen möglicherweise nicht-türkischen Ursprung der Melodie sprechen besonders die punktierten Noten am Beginn fast jedes musikalischen Formteiles sowie Intervallsprünge, wie die aufwärts verlaufende Quinte zu Beginn des Liedes.[3]
Für einen türkischen Ursprung sprechen für die türkische Volksmusik charakteristische Melodiebildungen wie die Häufigkeit kleiner Intervalle (z. B. Sekundschritt) und Tonumspielungen.[3] Auch die bevorzugt syllabische Textverteilung – von wenigen melismatischen Umspielungen abgesehen – ist charakteristisch für die kırık hava als einer der beiden Haupt-Liedtypen der türkischen Volksmusik.[3][9] Zudem enthält die melodische Struktur Elemente, die dem in weiten Teilen des islamisch-arabisch-persischen Raumes und auch in der osmanisch-türkischen höfischen Musik verwendeten modalen Konzept und tonalen System des makam entsprechen.[3]
Osmanischer Marsch
Einer Theorie zufolge soll Üsküdar’a Gider İken als osmanisches Janitscharen-Marschlied dazu gedient haben, entweder der osmanischen Eroberung von Konstantinopel (1453) oder der russischen Belagerung der bulgarischen Stadt Plewen (1877) im Russisch-Osmanischen Krieg (1877–1878), der zur Befreiung Bulgariens von der osmanischen Herrschaft führte, zu gedenken. In beiden Kontexten wird die erste Liedzeile „Auf dem Weg nach Üsküdar“ als Symbolisierung des Heimwärtsmarsches der Soldaten in die osmanische Hauptstadt gedeutet. Das osmanische Üsküdar war eine Stadt von einiger Bedeutung, diente als Sitz militärischer Operationen und war der Endpunkt von Karawanen, die von Syrien und Asien ausgingen.[10]
Osmanisches şarkı
Eine andere Theorie geht davon aus, dass Üsküdar’a Gider İken seinen Ursprung in einem osmanischen şarkı hat, einem populären, semiklassischen, strophischen, makam-basierenden osmanischen Lied-Genre städtischen Ursprungs. Bei den meisten Vertretern dieses Genres handelte es sich um Liebeslieder, deren Texte in sentimentaler und nostalgischer Form von Sehnsucht, unerfüllter Liebe oder Ohnmacht gegenüber dem Schicksal handelten. Aus Sicht der Aristokratie war der melancholische Charakter des Genres ein Ausdruck für den bevorstehenden Niedergang des unter westlichem Einwirken geschwächten Osmanischen Reichs.[10]
Zu den Merkmalen, die das Lied als möglicherweise mit der höfischen osmanischen Tradition verbunden charakterisieren, gehören seine breite Stimmlage, seine Tonhöhenbewegung, seine – bei Berücksichtigung der Wiederholungen – vierzeilige Versstruktur sowie seine modale Konstruktion als makam Nihavent.[10]
Ein Merkmal, das hingegen auf das osmanische System der Berufsgilden verweist, besteht in der die Liebe der Sängerin zu einem kâtip behandelnden Erzählung des Liedes.[10]
Dass Üsküdar’a Gider İken als şarkı im Umlauf war, findet zudem Erhärtung durch seine Aufführung unter dem Titel „Sharky Negavend: Lyubovnaya“ (dt. etwa: „Şarkı Nihavent: Liebeslied“) im Kompendium „Опыты художественной обработки народных песен, том 1“ (dt. etwa: „Experimente künstlerischer Arrangements von Volksliedern, Band 1“), das 1913 in Moskau von der musikethnologischen Kommission der ethnographischen Abteilung der Reichsgesellschaft von Amateurnaturforschern, Anthropologen und Ethnographen an der Reichsuniversität in Moskau unter Leitung des Komponisten Alexander Gretschaninow publiziert wurde.[10]
Der Niedergang des höfischen Mäzenatentums für osmanische Kunstmusik im späten 19. Jahrhundert brachte eine Verlagerung der şarkı-Darbietungen mit sich. Diese fanden nun in den im türkischen Besitz befindlichen städtischen Kaffeehäusern (kafehane) statt, sowie in den in griechischem Besitz befindlichen Nachtclubs oder Casinos (gazino) nach europäischem Stil. Das şarkı-Genre fungierte somit als musikalische Verbindung zwischen der Masser der Bevölkerung in den großen städtischen Zentren einerseits und dem osmanischen Hof andererseits. In den genannten Etablissements fand auch der Auftritt der als çengi bekannten professionellen orientalischen Tänzerinnen statt. Bei ihnen handelte sich häufig um Jüdinnen, Romnija oder Mitglieder anderer Minderheiten, die als Entertainerinnen und gelegentlich auch als Prostituierte arbeiteten. Entertainerinnen dieser Art fanden durch die osmanische Nobilität bis etwa 1840 Beschäftigung, als ihre Anwesenheit am Hof schließlich durch neue Gesetzgebung untersagt wurde und sie daher Arbeit in gewerblichen Etablissements suchten.[10]
Türkü
Neben den şarkı fanden in kommerziellen Unterhaltungsstätten auch urbanisierte Darbietungen von Türkü statt. Sie spielten eine ähnliche Rolle wie die şarkı und erlangten in großen Teilen der Bevölkerung Beliebtheit.[10] Die türkische Wissenschaft verweist darauf, dass Üsküdar’a Gider İken möglicherweise eher dieser Kategorie der Türkü zuzuordnen ist.[10]
Für diese Zuordnung spricht, dass es sich bei den Verfassern von şarkı-Texte in der Regel um bedeutende Dichter handelte, die dabei nach spezifischen Konventionen der persisch-arabischen Dichtung vorgingen, und dass die Vertonung zudem durch namhafte Komponisten erfolgte, deren Ziel darin bestand, mit der Melodie jede Textzeile aufzuwerten. Im Gegensatz dazu sind aber weder Verfasser oder Komponist von Üsküdar’a Gider İken bekannt, noch ist seine melodische Struktur derart sorgfältig ausgearbeitet.[10]
Ein zweites Argument für die Kategorisierung von Üsküdar’a Gider İken als Türkü besteht darin, dass türkische Musikwissenschaftler das Lied als ein städtisches Lied determiniert und eine Verbindung mit den Tanzimat-Reformen des 19. Jahrhunderts hergestellt haben. Diese Reformen verwiesen demnach nicht auf die mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches verbundene Nostalgie, sondern auf die Modernisierung des Staates. Somit hätte es sich bei dem Liedtext von Üsküdar’a Gider İken um das Porträt eines kâtib gehandelt, der sich in einem Geschäftsanzug westlichen Stils präsentiert. Dieses Bild eines kâtib sprach die Phantasie der Öffentlichkeit an und stellt möglicherweise ein metaphorisches Beispiel für den Übergangsprozess der Säkularisierung dar, in dem sich die Türkei seitdem mit den damit verbundenen Wandel der Geschlechternormen befand.[10]
Einfluss westlicher Operette
Eine weitere Theorie stellt die Vermutung auf, dass Darbietungen der westlichen Oper in der späten osmanischen Zeit den Ursprung für Üsküdar’a Gider İken bildeten oder es weit verbreiteten. Die Melodie des Liedes soll eine Rolle in der Operette Leblébidji Hor-Hor Agha spielen, die Dikran Tschuchadschjan als einer von mehreren armenischen Komponisten der Spätphase des Osmanischen Reiches um 1880 geschrieben hatte. Obwohl es als unwahrscheinlich gilt, dass Tschuchadschjan die vermutlich bereits vor 1880 kursierende Melodie von Üsküdar’a Gider İken geschrieben hat, soll die Operette die Popularität der Melodie an der Küste Kleinasiens verstärkt haben.[10]
Schottischer Marsch
Einer literarischen Quelle zufolge soll die Melodie eine Adaption einer schottischen Melodie sein, die an einer englischen Schule in Konstantinopel als Schulhymne gedient haben soll. Da jedoch eine Originalquelle der Notation fehlt, ist keine Überprüfung der Angabe möglich.[3][6] Auf der von Semir Vranić herausgegebenen Website sevdalinke.com war auf Grundlage der Ergebnisse des Ethnographen Šefčet Plana (1979; alternative Schreibweisen: Shefqet Pllana[11], Šefćet Plana/Шефћет Плана[12]) die Vermutung von Miroslava Fulanović-Šošić (1998) zitiert worden, dass es zu dieser Adaption gekommen sei, nachdem eine schottische Militärband eine schottische Melodie nach Konstantinopel gebracht habe. Während des Krimkrieges von 1853 bis 1856 zwischen dem Osmanischen Reich und Russland, bei dem die „Türkei“ Hilfe von „England“, Frankreich und Sardinien erhalten hatte, sei in den Militärkasernen in Istanbul auch eine Abteilung schottischer Soldaten untergebracht worden. Diese hätten mit ihren ungewöhnlichen Uniformen und ihrer Dudelsack-begleiteten Militärmarschmusik auf den Straßen die Aufmerksamkeit der Bürger auf sich gezogen. Diese Marschmelodie sei bald darauf zur Weise eines türkischen Volksliedes geworden[6][13]
Verbreitung der Melodie
Türkei:
In der Türkei ist das Lied als „Kâtibim“ oder „Üsküdar’a gider iken“ bekannt. Die wohl berühmtesten Aufnahmen stammen von Safiye Ayla (1907–1998) und Zeki Müren (1931–1996). Zeki Müren trat zudem als Schauspieler in dem Film „Kâtip (Üsküdar'a Giderken)“ von 1968 unter Regie von Sadık Şendil auf, in dem das Lied eine wichtige Rolle spielt und der in der Türkei und in der türkischen Diaspora sehr populär wurde.[14] Nach Angaben auf einer türkischen Internetseite soll die Melodie „Üsküdar’a Gider İken“ mit kleinen Tisch-Uhren, die aus Schottland in das osmanische Reich importiert wurden, populär geworden sein. Die Uhr sei unter dem Namen Kâtibim Türkülü Saat (Kâtibim-Spieluhr) zu einem großen Erfolg geworden und bis heute der Grund dafür, dass das Lied in weiten Teilen der Türkei bekannt ist.[15]
Übriges Südosteuropa:
- Albanien: Nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme auf dem Balkan in den 1990er Jahren gehörte das Lied nach Beobachtung der sich musikwissenschaftlich betätigenden Ursula Reinhard von 1993 beispielsweise in Albanien bei den Roma-Musikern zum Repertoire, die versuchten, es in traditioneller türkischer Weise wiederzubeleben.[3][16]
- Bosnien und Herzegowina: In Bosnien and Herzegowina gibt es die Melodie sowohl in Form des traditionellen Liebesliedes (sevdah/sevdalinka) „Pogledaj me Anadolko“ als auch in Form des religiösen kasida „Zašto suza u mom oku“.[16]
- Bulgarien: In Bulgarien kommt die Melodie in Form eines Liebesliedes („Церни очи имаш либе“; transliteriert: „Cerni oči imaš libe“) sowie als Hymne des Widerstands gegen das Osmanische Reich im Strandscha-Gebirge („Ясен месец веч изгрява“; transliteriert: „Jasen mesec več izgrjava“).[16] Einer der bekanntesten bulgarischen Interpreten des Liedes ist Slawi Trifonow.
- Griechenland: In Griechenland ist die Melodie unter verschiedenen Namen bekannt wie „Apo tin Athina“ oder „Apo xeno topo“ oder „Eskoutari“. Eine der bekanntesten griechischen Interpreten des Liedes ist die auch in Israel populäre Glykeria (Glykeria Kotsoula).[14]
- Mazedonien: Eine jüngere Darbietung der mazedonischen Fassung des Liedes („Ој Девојче, Девојче“) stammt von dem von der britischen BBC als „Elvis Presley des Balkans“ apostrophierten Musiker Тоше Проески (Toše Proeski), der auch als UNICEF-Botschafter tätig war und dessen früher Unfalltot mit einem Staatsbegräbnis und Trauerversammlungen an vielen Orten des Balkans und in der Diaspora betrauert wurde.[16]
- Serbien/Jugoslawien: Eine serbische Version der Melodie („Русе косе, цуро, имаш“; transliteriert: „Ruse kose, curo, imaš“, deutsch: „Blondes Haar hast du, Mädchen“) kam im populären jugoslawischen Film „Ciganka“ („Циганка“; deutsch: „Zigeunerin“) in den 1950er Jahren vor, der von der legendären Romni Koštana (Коштана) handelt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Region Vranje gelebt haben soll.[16]
- Deutschland: Eine sehr frühe Veröffentlichung für den mitteleuropäischen Raum erfolgte ab etwa 1960 durch den zweiten Band der Reihe der UNESCO-Kommission Europäische Lieder in den Ursprachen, deren Liednotation für „Üsküdara gideriken“ auf eine schriftliche Quelle aus dem Jahr 1952 zurückgeht. Sie weist auffallende Übereinstimmungen mit und nur ganz wenige Abweichungen von der 1949 von Safiye Ayla gesungenen Fassung auf. Im Zusammenhang mit der UNESCO-Veröffentlichung ist die 1949 in Essen von Josef Gregor gegründete Singebewegung Die Klingende Brücke von Bedeutung, die das Kennenlernen, Verstehen und Singen der Volkslieder Europas in den Originalsprachen pflegt und fördert. Es wird angenommen, dass das Lied Üsküdara gideriken in Verbindung mit seinem Erscheinen in der UNESCO-Reihe auch in das Repertoire der Singebewegung aufgenommen wurde. Es fand zudem, möglicherweise als Folge davon, Eingang in die Musikpädagogik in Deutschland, insbesondere in den 1980er Jahren.[3] Der türkische Originalliedtext wurde in einigen Fällen durch sich stark von ihm unterscheidende Texte in deutscher Sprache ersetzt.[17] Auch für österreichische Liederbücher für die Schule ist es nachgewiesen worden, während es laut Klebe in Schulliederbüchern in der Türkei jahrzehntelang nicht vorkam.[3]
- Unter anderem gelangte das zu diesem Zeitpunkt in der Türkei bereits weit verbreitete, bekannte und beliebte Lied Üsküdar’a Gider İken seit dem Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik der Türkei von 1961 auch mit Migranten aus der Türkei nach Deutschland. In der Türkei wie in der Diaspora erklang es besonders häufig auf Hochzeits- oder Beschneidungsfesten als Tanzmusik, heute meist nur noch in reiner Instrumentalfassung als Begleitmusik zum çiftetelli-Tanz (Hüfttanz mit teilweise bauchtanzartigen Bewegungen, besonders in der Türkei in den Städten getanzt).[3]
- Die erste Sequenz des Melodie wurde auch in dem von Frank Farian geschriebenen und von Boney M. gesungenen Disco-Song Rasputin verwendet, das wiederum von anderen Gruppen wie der kroatischen Gruppe Vatrogasci oder der finnischen Viking-Metal-Band Turisas in Coverversionen aufgegriffen wurde.[17] Während Eartha Kitt am Ende ihrer Version „Uska Dara – A Turkish Tale / Two Lovers“ den Satz „Oh, those Turks!“ (dt.: „Oh, diese Türken“) gesprochen hatte, endete die von Boney M. gesungene Rasputin-Version Frank Farians mit den Worten „Oh, those Russians!“ (dt.: „Oh, diese Russen!“).
- Häufig wird die Melodie als sephardisch bezeichnet, wie etwa von der spanischen Band Mediterranea („Uskudara“). Die führende italienische Klezmer-Gruppe KlezRoym nahm das Lied auf Juden-Spanisch auf („Fel Shara“). Die deutsche Band Di Grine Kuzine veröffentlichte ebenfalls eine jüngere Klezmer-Interpretation („Terk in Amerika“).[14]
- Eine arabische Version des Liedes („Banat Iskandaria“) wurde vom Libanesen Mohammed El-Bakkar aufgenommen, der 1959 in den USA starb.[14]
- USA: In den 1920er Jahren kam die Melodie nach Nordamerika und wurde insbesondere durch den aus Galizien stammenden Naftule Brandwein und die in den USA geborene Eartha Kitt bekannt.[18]
Sonstige Regionen:
- Aus Afghanistan ist eine weitere Fassung der Melodie bekannt, die vom usbekischen Sänger Taaj Mohammad gesungen wurde.[19]
Details zu bedeutenden Interpretationen
- 1924: Naftule Brandwein, „Der Terk in America“. In einer rein-instrumentalen Fassung spielte der Klezmer-Klarinettist, der ausschließlich nach Gehör spielte, Üsküdara gideriken in New York ein. Möglicherweise gehörte diese Liedmelodie schon zu seinem Repertoire, das er sich in Osteuropa erworben hatte. Er behielt es auch nach seiner Immigration aus Galizien nach Amerika bei, denn viele jüdische Musiker spielten auch für ein nichtjüdisches Publikum von Immigrantengemeinschaften verschiedenster Herkunft, das sich unter anderem aus Griechen, Polen, Russen, Ungarn, Ukrainern, Zigeunern, Italienern und Türken rekrutierte. Brandwein hat in seiner von einem Instrumentalensemble in leicht harmonisierter Weise begleiteten Version die beiden ersten musikalischen Formteile, wie sie aus der Version des Avedis vorliegen, mit Varianten verwendet und den bei Avedis vorkommenden Refrainteil fortgelassen. An seine Stelle treten zwei andere Formteile, die die beiden aus der Version des Avedis bekannten Formteile sowie deren variative Wiederholungen als Zwischen- bzw. Nachspiel verbinden.[3]
- 1949: Safiye Ayla, „Kâtibim“. In der in Istanbul aufgenommenen vokalinstrumentalen Fassung auf dem Label Columbia wird Safiye Ayla Targan, die zur Zeit der Aufnahme Ensemblemitglied am städtischen Konservatorium in Istanbul war, von einem Instrumentalensemble in heterophoner Musizierweise begleitet. Das Booklet der CD gibt als musikalische Gattung „urban türkü“ an und nennt als Begleitinstrumente keman (in Quarten gestimmte europäische Violine), kanûn (Trapezzither), ud (Knickhalslaute ohne Bünde) und klarnet (europäische Klarinette in G, meist Albertsystem). Zudem sind Perkussionsinstrumente mit einem rhythmischen pattern in den rein instrumentalen Passagen zu hören. Die nach Auflösung des Osmanischen Reiches 1923 gegründete Republik der Türkei richtete sich in ihrer Musikkultur anfänglich überwiegend nach europäischen, „westlichen“ Vorbildern aus, was oft zum Bruch besonders in der bis dahin mündlichen Überlieferung der Volks- wie auch teilweise der Kunstmusik führte, während schriftlich festgehaltene Werke später rekonstruiert werden konnten. Die Erfindung und Verbreitung der Schallplatte als analoger Tonträger wirkte sich auf das Musikleben der neuen Republik aus, indem Musiklabels wie Columbia oder His Master’s Voice produzierten in den 1930er und 1940er Jahren zahlreiche Schallplatten und verhalfen einigen Interpreten wie Safiye Ayla, die 500 Titel – meist Vokalgattungen der Kunstmusik sowie einige städtische Lieder und Volkslieder – einspielte, zu einem großen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad.[3]
- 1953: Eartha Kitt, „Uska Dara – A Turkish Tale / Two Lovers“. Die in den USA erschienene Version des von einem Instrumentalensemble begleiteten international bekannten Gesangsstars Eartha Kitt könnte in ihrer Interpretation auf der von Safiye Ayla basieren. Der Vortrag, insbesondere der härtere Vortragsstil, die Aussprache des Türkischen sowie die eingeschobenen Erzähltexte, wurden auch zum Anlass zu Spekulationen für eine Herkunft aus anderen Tradierungsquellen genommen. Es handelt sich nicht um eine reine Liedinterpretation, sondern um eine Kombinationsfassung von Lied und Erzähltext. Die instrumentale Begleitung zeigt ein hohes Maß an Eigenständigkeit und keine Affinität zur Interpretation des Ensemble zu Safiye Ayla's Version. In Bezug auf eine mögliche Tradierungsquelle in den USA wurde in Betracht gezogen, dass nach der Auflösung des Osmanischen Reiches Teile der türkischen Bevölkerung wie auch Angehörige ethnischer Minderheiten, hauptsächlich armenische und griechische Christen sowie Juden, unter dem Druck der Jungtürken das Land verlassen hatten und viele von ihnen in die USA ausgewandert waren. Dort entwickelte sich eine eigene spezifische Immigrantenkultur und eine nennenswerte Anzahl ausgewanderter Künstler wurde von US-amerikanischen Plattenfirmen unter Vertrag genommen und produzierte für ebenfalls in der Diaspora lebende Migranten aus dem ehemaligen Osmanischen Reich landesspezifische Musik. Möglicherweise kam auch Eartha Kitt mit der türkischen Musikkultur durch Auswanderer türkischer, griechischer, armenischer, jüdischer oder anderer Ethnien aus dem Osmanischen Reich in New York in Berührung, wo beispielsweise die 8th Avenue zum Zentrum für armenische Musik mit live-Darbietungen geworden war.[3]
Noten und Text
Inhalt und Wandel des türkischen Liedtextes
Der Liedtext der türkischen Textversionen enthält eine Reihe von Metaphern und Symbolen, deren Bedeutung sich aus der türkischen Kultur erschließt. Eine selbstbewusste Witwe aus dem Umkreis der höfischen Gesellschaft, bei der es sich um eine freigelassene Sklavin handeln könnte, die durch Heirat zu Wohlstand gekommen ist, begibt sich über den Bosporus nach Skutari/Üsküdar. Dieser auf der kleinasiatischen Seite des Bosporus gelegene Stadtteil war damals nur mit einer Fähre zu erreichen. Die Dame findet ein Taschentuch und füllt es mit der Süßspeise Lokum, die ein Symbol für den Wunsch nach einer glücklichen Verbindung sowie Glück in der Zukunft darstellt. In Üsküdar trifft sie ihren Geliebten, einen kâtip (arabisch: Schreiber, d. h. „des Schreibens Kundiger“), womit im Osmanischen Reich ein Sekretär oder Bürokrat aus der unteren Oberschicht der Beamten bezeichnet wurde. Die Dame kehrt von Üsküdar mit „ihrem“ kâtip nach Istanbul zurück und preist ihren Geliebten, sein Aussehen und seine Kleidung stolz, während die sich über das Gerede der Leute hinwegsetzt. Sie möchte in einer Kutsche mit ihm spazieren fahren und dabei von Musikanten begleitet werden.[3]
Textliche Veränderungen sind besonders in den dokumentierten Fassungen von 1902 (Provinzfassung aus Aleppo) und 1903/1904 („Stambuler Fassung“ sensu von Luschan aus Istanbul) zu beobachten, die vermutlich noch auf mündlicher Tradierung beruhen und zwar zeitlich nur gering, geografisch jedoch rund 1200 km auseinander liegen, so dass sich in der osmanischen Provinz möglicherweise eine ältere Fassung erhalten hat als in der Metropole Istanbul. Die Veränderungen betreffen zum Einen die Beschreibung der äußeren Erscheinung des Sekretärs und zum anderen die Ergänzung der beiden Strophen um jeweils eine Verszeile in der „Stambuler Fassung“. Eine gravierende Veränderung erfolgte dadurch, dass der dreizeilige Refraintext der Provinzfassung und der „Stambuler Fassung“ von Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu einer Aufnahme aus Istanbul von 1949 wegfiel und nur ein Kerntext verblieb, der aus dem Textvorrat der Strophentexte 1 und 2 bestand. Zudem vollzog sich innerhalb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vertauschung einzelner Doppelverse und eine Veränderung im inhaltlichen Ablauf. Über einen größeren Zeitraum blieb dieser Kerntext unverändert, was möglicherweise auf die inzwischen erfolgte schriftliche Fixierung des Liedtextes zurückzuführen ist, die für eine Reihe der nachfolgenden Fassungen zur Grundlage wurde. In neuerer Zeit ist eine Reduktion des zweistrophigen Kerntextes zu einer Stropheneinheit zu beobachten, was damit zusammenhängen könnte, dass das Lied vornehmlich in rein instrumentaler Fassung weiter überliefert wird.[3]
Wesen und Wandel der Gesamtgestalt
Von der Formalstruktur her kann der Liedtext in einen Strophen- und Refraintext unterteilt werden. Der siebenzeilige Text des Avedis-Originals (Provinzversion) von 1902 besteht aus Strophen mit je zwei Doppelversen. Daran schließen sich drei Refrainzeilen an.[3]
Reimstruktur (Provinzversion von 1902):[3]
1. Strophe: a / a / b / b / R(c) / R(c) / R(c) //
2. Strophe: d / d / b / b / R(c) / R(c) / R(c) //
Diese Einteilung von Strophe und Refrain verschiebt sich in der bearbeiteten Fassung (Stambuler Version), bei der Hacki Tewfik Beg sowohl in der ersten wie auch der zweiten Strophe eine weitere Zeile mit gleichem Endreim (a bzw. d) hinzufügte, so dass von einem fünfzeiligen Strophentext und einem dreizeiligen Refrain ausgegangen werden kann.[3]
Reimstruktur (Stambuler Version von 1903/1904):[3]
1. Strophe: a / a / [a] / b / b / R(c) / R(c) / R(c)
2. Strophe: d / [d] / d / b / b / R(c) / R(c) / R(c)
Da die stark variable Textstrukturform in beiden Versionen weder einer Gattung der Volks- noch der höfischen Poesie in ihrer Reinform entspricht, wird von einer Mischform ausgegangen, die am ehesten von der in der Volksliteratur häufig vorkommenden Gattung und Gedichtart türkü beeinflusst ist. Die für die einfache Volkspoesie eher untypisch hohe Anzahl der Silben pro Zeile verweist hingegen auf Einflüsse aus der höfischen Poesie, so dass insgesamt von einer städtischen Mischform aus volkstümlicher und höfischer Literatur gesprochen werden kann.[3]
Die Veränderung der Gesamtgestalt besteht in dessen Reduzierung auf zwei musikalischen Formteile durch Wegfall zweier weiterer und hat Auswirkungen auf das musikalische Gestaltprinzip des makam. Die Metamorphosen des makam verändern zum Einen das modale Konzept der Liedmelodie der Ausgangsfassung von einer Basisform der Tonskala zu einer Rumpfskala. Zum anderen bezeugen sie auch Veränderungen in der makam-Darstellung, da die Bindung an den Kontext der höfischen Kunstmusik und somit auch die Regeln der Ausführung verlassen werden und andere Musikbereiche – und damit auch andere Tonsysteme – in die neu entstehenden Mischformen miteinfließen. Erhalten hat sich ein Text/Melodie-Kern aus zwei Formteilen, an den sich textlose, rein instrumentale Formteile anschließen können. Die rein instrumentale Fassung zunehmend bevorzugt.[3]
Literatur und Dokumentationen
- Felix von Luschan (1904): Einige türkische Volkslieder aus Nordsyrien und die Bedeutung phonographischer Aufnahmen für die Völkerkunde. In: Zeitschrift für Ethnologie, Jg. 36, Heft 2 (1904) Berlin, S. 177–202.
- Otto Abraham und Erich Moritz von Hornbostel (1904): Phonographierte türkische Melodien. In: Zeitschrift für Ethnologie, Jg. 36, Heft 2 (1904) Berlin, S. 203–221.
- Райна Кацарова (Raina Katsarova) (1973): Балкански варианти на две турски песни (Balkanski varianti na dve turski pesni) [dt.: Balkanvarianten zweier türkischer Lieder]. In: Известия на института за музикознание (Izvestiya na Instituta za Muzikoznanie), Sofia, 16 (1973); S. 115–133.
- Šefčet Plana (1979): Metamorfoza jedne pesme. Radio Priština, Programm: „Nedelje Radia 79“, Ohrid, 1979.
- Miroslava Fulanović-Šošić (1998): Folklorizirane pjesme u muzičkoj praksi bosansko-hercegovačkih naroda. In: Muzika, Jg. II, Nr. 1 (5), (1998), S. 12–23, URL: http://sevdalinke.blogspot.com/2007/10/miroslava-fulanovi-oi-folklorizirane.html.
- Adela Peeva (Адела Пеева) (2003): Chia e tazi pesen (Whose is this song)? (Чия е тази песен?), Albanien/Bosnien und Herzegowina/Bulgarien/EJRM Mazedonien/Griechenland/Serbien/Türkei, 2003, 70-minütige Video-Dokumentation (verschiedene Sprachen mit englischen Untertiteln).
- Die bulgarische Filmemacherin Adela Peeva führte Regie für die Dokumentation „Чия е тази песен?“ (Wem gehört das Lied?), die aus einem in den späten 1990er Jahren von ihr begonnenen Projekt resultierte, die Spuren der Melodie des Üsküdara gider iken in der Region nachzuverfolgen. Der Dokumentarfilm erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen.[20][21]
- Dorit Klebe (2004): Das Überleben eines osmanisch-türkischen städtischen Liebesliedes seit einer frühen Dokumentation von 1902. Metamorphosen eines makam. In: Marianne Bröcker (Hrsg.): Das 20. Jahrhundert im Spiegel seiner Lieder. In: Schriften der Universitätsbibliothek Bamberg, Band 12 (2004), S: 85–116.
- Fanya Palikruschewa-de Stella (2004): Ein Lied für alle. Varianten eines Liedes in sechs Balkanländern. Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 2004 (unveröffentlichte Abschlussarbeit).
- Martha Hammerer (2006): Üsküdara gider iken in der Bearbeitung von Sabri Tuluğ Tırpan. In: Ursula Hemetek (Hrsg.): Die andere Hymne. Minderheitenstimmen aus Österreich. Ein Projekt der Initiative Minderheiten im Verlag der Österreichischen DialektautorInnen, Wien, 2006, S. 89–103.
- Donna A. Buchanan (2007): 'Oh, Those Turks!' Music, Politics, and Interculturality in the Balkans and Beyond. In: Donna A. Buchanan (Hrsg.): Balkan Popular Culture and the Ottoman Ecumene: Music, Image, and Regional Political Discourse, Scarecrow Press, Lanham, MD (2007), 3–54.
- Üsküdara gideriken Lied des Monats Mai 2015 der Klingenden Brücke
Weblinks
- 1953: Eartha Kitt, Uska Dara – A Turkish Tale / Two Lovers auf YouTube
- 2009: Loreena McKennitt, Sacred Shabbat (Album: A Mediterranean Odyssee) auf YouTube
- 2003: Adela Peeva, Whose is this Song Homepage und Dokumentarfilm
- 2013: Coke Studio Pakistan: Ishq Kinara auf YouTube
- Glykeria, U Apo Xeno Topo auf YouTube
- Japanische Version auf YouTube
- Reni, Da Se Razdelim auf YouTube (Kanal ReniOfficialMusic)
- Malayische Version Suria („Die Sonne“) auf YouTube im Komödiendrama-Film „Ahmad Albab“ von P. Ramlee
Referenzen
- ↑ Svanibor Pettan: The alaturka-alafranga Continuum in the Balkans: Ethnomusicological Perspectives. In: Božidar Jezernik: Imagining ‘the Turk’, Cambridge Scholars, Newcastle upon Tyne, 2010, ISBN 978-1-4438-1663-2 (Printausgabe), S. 179–194; hier S. 183.
- ↑ Svanibor Pettan: Balkan Boundaries and How to Cross Them: A Postlude. In: Donna A. Buchanan (Hrsg.): Balkan Popular Culture and the Ottoman Ecumene: Music, Image, and Regional Political Discourse, Scarecrow Press, Lanham, MD (2007), S. 365–384.
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