Diuretikum

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Ein Diuretikum (Mehrzahl: Diuretika; von altgriechisch δι-ουρητικός di-uretikós „den Urin befördernd“, von di[o]ureîn „harnen“; zu οὖρον uron „Urin, Harn“; früher auch Hydragogum[1][2][3]) ist ein Wirkstoff, der eine vermehrte Ausschwemmung von Urin (Diurese) aus dem menschlichen oder tierischen Körper durch eine verstärkte Harnerzeugung in den Nieren bewirkt.

Diuretika werden als Arzneimittel bei der Therapie von unzureichender Nierenfunktion, von peripheren Ödemen und Lungenödemen sowie zur Behandlung des Bluthochdrucks und der Herzinsuffizienz eingesetzt.

Wirkungsweise

Alle modernen Diuretika hemmen die tubuläre Reabsorption.[4][5][6] „Diuretica im engeren Sinn hemmen nach Robert Pitts (1958)[7] partiell die tubuläre Natriumrückresorption“ und damit auch die tubuläre Rückresorption von Wasser.[8]

Dieses Wirkprinzip gilt auch für Trinkwasser bei der Wasserdiurese, zum Beispiel beim veralteten Wasserversuch aus diagnostischen Gründen („Das einfachste periphere Diuretikum ist die einmalige plötzliche Zufuhr großer Wassermengen“).[9]

Wenn die tubuläre Rückresorptionsquote zum Beispiel von 99 % auf 98 % verkleinert wird, dann verdoppelt sich die Urinproduktion von 1 auf 2 Prozent des Primärharns.[10] Ebenso würde sich der Urinfluss bei konstanter Rückresorptionsquote dann verdoppeln, wenn sich das Herzzeitvolumen und damit die glomeruläre Filtrationsrate verdoppeln; wegen ihrer positiven Inotropie mit diuretischer Wirkung wurden früher die Herzglykoside zur Behandlung der Herzinsuffizienz verordnet.

Die meisten Diuretika sind Saluretika; sie wirken durch Hemmung der Rückresorption von Natrium im Nierentubulus; der resultierende Salzverlust (Salurese) ist dabei als Eingriff in den Volumenhaushalt therapeutisch gewünscht. Zur Therapie von osmotischen Störungen existieren daneben mit den Aquaretika (Vasopressin-Antagonisten) Diuretika, die allein die Ausscheidung von Wasser (Aquarese) fördern. Umgangssprachlich werden Diuretika in Tablettenform auch Entwässerungstabletten oder kurz Wassertabletten genannt.

Geschichte

In der Heilkunde sind harntreibende Mittel und Anwendungen schon sehr lange bekannt.[11] Dabei ist zwischen Verfahren zur Vergrößerung der Glomerulus-Funktion und Verfahren zur Verkleinerung der Tubulus-Funktion zu unterscheiden. William Withering veröffentlichte 1785 seinen Bericht über den Fingerhut und seine medizinischen Anwendungen mit praktischen Bemerkungen über Wassersucht und andere Krankheiten. Johann Georg Krünitz widmete den pflanzlichen Diuretika ein ganzes Kapitel in seiner Ökonomischen Enzyklopädie.[12]

Carl Ludwig schrieb 1861 in der zweiten Auflage seines physiologischen Lehrbuches: „Viele Diuretica sollen vorzugsweise dadurch wirken, dass sie den Harnrückstand und damit das Wasser mehren (Kramer).“[13] Ludwig verstand unter dem Harnrückstand denjenigen Primärharnanteil, welcher in den Tubuli nicht rückresorbiert wird. Jedes Diuretikum verkleinert iatrogen die Tubulusfunktion.

Eine Vergrößerung des Herzzeitvolumens führt zu einer Zunahme der renalen Perfusion und der glomerulären Filtration. Auch bei unveränderter tubulärer Rückresorption steigt der Harnfluss. So wirken die Herzglykoside (Digitaliswirkstoffe);[14] sie können das Herzzeitvolumen und damit die glomeruläre Filtrationsrate um etwa ein Drittel erhöhen.[15] Eine bessere renale Durchblutung wird erreicht durch Wärmeeinwirkungen auf die Headschen Zonen der Nieren. Pflanzliche Gewebsdiuretika sollen einen Wasserentzug aus den Geweben bewirken. Diese Methoden sollen den Blutkreislauf verbessern und das Schlagvolumen sowie den Blutdruck vergrößern.[16] Davon ist das Wirkprinzip der Tubulus-Diuretika abzugrenzen. In der heutigen Pharmakologie werden nur diese als Diuretika bezeichnet.[17][18]

Als die ersten wirksamen Tubulus-Diuretika waren die Purine bekannt. Zu diesen gehören Coffein, Theophyllin und Theobromin. Letzteres wurde zum ersten Mal von Albert Knoll aus Kakaoschalen extrahiert. Daraus entwickelte dessen Firma 1889 das Theobrominpräparat Diuretin. Nachfolgend synthetisierte 1902 Byk Gulden das Theophyllin-haltige Theocin, welches 1908 mit Ethylendiamin zusammen versetzt wurde (Euphyllin).[19]

Fast zeitgleich entdeckte man die Quecksilber-Diuretika. Arthur Robertson Cushny beschrieb 1917 die diuretische Wirkung von Kalomel.[20] Das erste industriell bedeutsame Präparat war das von der Bayer AG im Jahre 1917 eingeführte Novasurol (Merbaphen). Von 1920 bis 1961 wurden zahlreiche Quecksilberpräparate auf ihre diuretische Wirkung untersucht. Einige davon wurden in die Therapie eingeführt, zum Teil auch in Kombination mit den Purinen.[21]

Als erstes Sulfonamid-Diuretikum gilt der Carboanhydrasehemmer Acetazolamid. Dieses wurde ab 1950 von der Firma Lederle vertrieben. Der Nachweis des Diuretikums Acetazolamid bei einem Eisschnellläufer aus Japan stellte den ersten Dopingfall bei der Winterolympiade 2018 dar.[22] 1957 entdeckten die Chemiker Frederick Novello und John Baer sowie der Pharmakologe Karl Heinz Beyer die neue Klasse der Thiaziddiuretika. Das erste gelangte schon 1959 als Chlorthiazid auf den Markt. Im selben Jahr veröffentlichte die Ciba AG das potentere Hydrochlorothiazid (abgekürzt HCT, Esidrix). Bei der Forschung weiterer Thiaziddiuretika entdeckten Roman Muschaweck und der Chemiker Paul Hajdu das Schleifendiuretikum Furosemid (Lasix), das bis heute (zusammen mit dem wirkstärkeren Folgepräparat Torasemid) der Goldstandard der Diuretika-Therapie ist.

Nachfolgend wurden zwischen 1959 und 1966 als kaliumsparende Diuretika der Aldosteronantagonist Spironolacton und die zyklischen Amidinderivate Triamteren und Amilorid entwickelt.[23]

Ein besonderes diuretisches Therapieprinzip ist seit etwa 1985 die sequenzielle Nephronblockade.

Einteilung nach Wirkungsmechanismus

Je nach Angriffsort und Wirkungsmechanismus lassen sich die am Tubulus wirkenden Diuretika[24] in verschiedenen Gruppen einteilen:[25]

So gut wie nicht mehr als Diuretika verwendet werden Carboanhydrasehemmstoffe, die die Protonensekretion und die Natriumhydrogencarbonat-Rückresorption blockieren, überwiegend an den proximalen Tubuluszellen. Sie werden noch in der Augenheilkunde zur Glaukombehandlung eingesetzt. Substanzbeispiel: Acetazolamid.

Nur in speziellen Fällen kommen osmotische Diuretika wie Mannit und Sorbit zum Einsatz. In hyperosmolarer Lösung binden sie freies Wasser intravasal. Sie werden intravenös bei drohendem Nierenversagen verwendet.

Pflanzen mit diuretisch wirksamen Inhaltsstoffen

Es gibt eine Reihe von Pflanzen mit diuretisch wirksamen Inhaltsstoffen. Solche sind etwa:

Die genannten Pflanzen werden in getrockneter Form (Teedroge) als Bestandteil in Teemischungen zur Bereitung von Heißwasseraufgüssen (Entwässerungs-„Tees“) verwendet. Eine weitere Anwendungsform stellen Fertigextrakte dar, die zu Aufgusspulvern, Tabletten oder Tropfen verarbeitet werden. Die Wirkung ist mild und beruht auf dem Gehalt bestimmter Flavonoide und/oder ätherischer Öle.

Pflanzliche Arzneimittel[26] haben neben den chemisch-synthetisch hergestellten Arzneistoffen nur eine untergeordnete therapeutische Bedeutung.

Anwendungsgebiete (Indikationen)

Diuretika werden verwendet in der Behandlung von:

Nebenwirkungen

Diuretika sind im Allgemeinen gut verträglich und haben eine hohe therapeutische Breite. Als mögliche Nebenwirkungen können auftreten:

  • Austrocknung durch zu hohen Wasserverlust (Exsikkose)
  • Salzmangel
    • Hyponatriämie mit Krampfanfällen, Verwirrtheit (selten) und Wadenkrämpfen
    • Hypokaliämie mit Herzrhythmusstörungen (gilt nicht für kaliumsparende Diuretika, diese können eine Hyperkaliämie hervorrufen)
  • Vermehrte Thromboseneigung bei eingedicktem Blut
  • zu niedriger Blutdruck (Hypotonie)

Diuretika stehen auf der Dopingliste.[27]

Weitere Stoffe mit harntreibender Wirkung

Diuretika bewirken eine Diurese. Eine Diurese kann aber auch noch von bestimmten Nahrungsmitteln, einigen anderen Medikamenten, zahlreichen Pflanzen und manchen Giftstoffen hervorgerufen werden. Eine diuretische Wirkung haben zum Beispiel auch:

Xanthine erhöhen durch Blockade der Adenosinrezeptoren die Durchblutung des Nierenmarks, wodurch es zu einer gesteigerten Bildung von Primärharn kommt. Trotz der harntreibenden Wirkung bewirkt Coffein (enthalten etwa in Kaffee, Tee) keine dauerhafte Entwässerung, da der Körper entsprechend gegensteuert (Rebound-Effekt).[28][29] Der Rebound-Effekt tritt auch bei einigen Diuretika auf, wenn sie als Dauertherapie gegeben werden.[30]

Stoffe mit schädigendem[31][32] oder hemmendem Einfluss auf die Tubulusfunktion wirken diuretisch (zum Beispiel auch Heparin und Progesteron).[33]

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Ludwig August Kraus: Kritisch-etymologisches medicinisches Lexikon. 3. Auflage. Verlag der Deuerlich- und Dieterichschen Buchhandlung, Göttingen 1844, S. 481. archive.org Digitalisat der Ausgabe von 1844, Internet Archive.
  2. Walter Guttmann: Medizinische Terminologie, 1. Auflage, Verlag Urban & Schwarzenberg, Berlin / Wien 1902, S. 431.
  3. Günter Thiele: Handlexikon der Medizin, Verlag Urban & Schwarzenberg, München / Wien / Baltimore ohne Jahr [1980], Teil II (F–K), S. 1113.
  4. Heinrich Knauf, Ernst Mutschler: Diuretika, Urban & Schwarzenberg, 2. Auflage, München / Wien / Baltimore 1992, ISBN 3-541-11392-8, S. 53.
  5. K. Meng, F. Seuter: Zum renalen Wirkungsmechanismus der Diuretika, in: Karl Klütsch, Ernst Wollheim, Hans-Jürgen Holtmeier (Hrsg.): Die Niere im Kreislauf. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1971, ISBN 3-13-468201-X, S. 148.
  6. Zitat: „Hemmung des aktiven Austransportes“. Quelle: K. Meng, F. Seuter: Zum renalen Wirkungsmechanismus der Diuretika. In: Karl Klütsch, Ernst Wollheim, Hans-Jürgen Holtmeier (Hrsg.): Die Niere im Kreislauf. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1971, ISBN 3-13-468201-X, S. 149.
  7. Robert F. Pitts: Some reflections on mechanism of action of diuretics, in: The American Journal of Medicine, Band 17, 1958, S. 745.
  8. Herbert Schwiegk (Hrsg.): Nierenkrankheiten, in: Handbuch der inneren Medizin, 5. Auflage, 8. Band, 1. Teil, Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1968, S. 595.
  9. Franz Volhard: Die doppelseitigen hämatogenen Nierenerkrankungen. In: Gustav von Bergmann, Rudolf Staehelin (Hrsg.): Handbuch der inneren Medizin, 2. Auflage, Verlag von Julius Springer, Berlin / Heidelberg 1931, Band 6, Teil 1, S. 349.
  10. Dietrich Höffler: Diuretika-Therapie in der Praxis. Aesopus Verlag, Basel / Wiesbaden 1982, ISBN 3-87949-080-5, S. 7.
  11. Präparate-Liste der Naturheilkunde, 15. Auflage, Sommer-Verlag, Teningen 1994, ISBN 3-925367-98-5, S. 463–477. Hier werden 30 Diuretika angeführt.
  12. Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyclopädie, Berlin 1773 bis 1858, Band 202, Seite 179.
  13. Carl Ludwig: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. 2. Band: Aufbau und Verfall der Säfte und Gewebe. Thierische Wärme. C. F. Wintersche Verlagshandlung, 2. Auflage, Heidelberg 1861, ISBN 978-0-282-31423-1 (Reprint), S. 410.
  14. Herzglykoside. 2. Auflage. Beiersdorf AG, Hamburg 1975, S. 24 f.
  15. Hans Joachim Gilfrich: Pharmakodynamische Veränderungen durch Herzglykoside: Was zeigt der Auslaßversuch?, in: Helmut Gillmann, Liv Storstein (Hrsg.): Digitalistherapie heute. Verlag für angewandte Wissenschaften, München 1983, ISBN 3-922251-78-1, S. 14.
  16. Josef Heinzler: Kurzgefasste Darstellung der Pharmakologie und Toxikologie, Medizinisches Repetitorium München, 9. Auflage, München 1973, S. 206–212.
  17. Gustav Kuschinsky, Heinz Lüllmann: Kurzes Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie. 9. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart / New York 1981, ISBN 3-13-368509-0, S. 160–167.
  18. Kurt Kochsiek, Helmut Gillmann, Alfred Schrey: Diuretika bei Hypertonie und Herzinsuffizienz. Urban & Schwarzenberg, München / Wien / Baltimore 1984, ISBN 3-541-10891-6.
  19. Theodor Brugsch: Lehrbuch der inneren Medizin. 5. Auflage, 1. Band. Urban & Schwarzenberg, Berlin/ Wien 1940, S. 30 f.
  20. Arthur Robertson Cushny: The Secretion of the Urine. Longmans, Green and Company, London 1917, S. 184.
  21. "Das erste Quecksilber-Diuretikum wurde 1919 zur Ödemausschwemmung genutzt." Quelle: Heinrich Knauf, Ernst Mutschler: Diuretika, Urban & Schwarzenberg, 2. Auflage, München / Wien / Baltimore 1992, ISBN 3-541-11392-8, Vorwort Seite V.
  22. Dopingsünder verlässt Olympisches Dorf. (Memento vom 19. Februar 2018 im Internet Archive) orf.at, 19. Februar 2018, abgerufen 19. Februar 2018.
  23. „Pharmakologische Möglichkeiten zur Reduktion der gesteigerten proximal-tubulären Reabsorption“. Zitat: F. Krück, Alfred Schrey (Hrsg.): Diuretika III, Springer-Verlag, ISBN 3-540-16947-4, Berlin / Heidelberg / New York 1986, S. 57.
  24. Rainer Düsing: Diuretika, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1986, ISBN 3-8047-0754-8.
  25. Vgl. dazu Markus Veit: Probleme bei der Bewertung pflanzlicher Diuretika. In: Zeitschrift für Phytotherapie. Band 16, 1994, S. 331–341; und derselbe: Qualitätssicherung pflanzlicher Arzneimittel. In: Deutsche Apotheker-Zeitung. Band 135, Nr. 2, 1995, S. 159–165.
  26. Diuretika; Maskierungsmittel; Doping; verbotene Substanzen (Memento vom 22. Mai 2012 im Internet Archive), unabhängiges Informationsangebot der Nationalen Anti-Doping Agentur (NADA).
  27. Kaffee ist besser als sein Ruf: Neue Ergebnisse entlasten den beliebten Muntermacher. Auf: wissenschaft.de vom 5. April 2005.
  28. Studie: Kaffee entzieht dem Körper kein Wasser. (Memento vom 27. Januar 2007 im Internet Archive).
  29. Klaus Aktories, Ulrich Förstermann, Franz Hofmann, Klaus Starke: Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie, 10. Auflage, Elsevier, Urban & Fischer, München / Jena 2009, ISBN 978-3-437-42522-6.
  30. Hans Joachim Sarre: Nierenkrankheiten, 4. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1976, ISBN 3-13-392804-X, S. 430 ff.
  31. Nach Embolisation einer Niere mit Vinylacetat kam es zur „Atrophie des tubulären Systems bei relativ gut erhaltenen aneinandergerückten Glomeruli.“ Zitat: Hubert Frohmüller: Experimentelle Nierenarterienstenose und Hochdruck, in: Karl Klütsch, Ernst Wollheim, Hans-Jürgen Holtmeier (Hrsg.): Die Niere im Kreislauf. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1971, ISBN 3-13-468201-X, S. 211–218.
  32. Hans Jahrmärker: Medikamentöse Beeinflussung der Diurese, in: Karl Klütsch, Ernst Wollheim, Hans-Jürgen Holtmeier (Hrsg.): Die Niere im Kreislauf. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1971, ISBN 3-13-468201-X, S. 138–147.