Benutzer:Dinah/Ekel
Julia Kristeva
Die französische Psychologin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva prägte 1980 in ihrem Buch Pouvoirs de l'horreur. Essai sur l'abjection den Begriff „Abjektion“ (Verwerfung) bzw. „abjekt“ im Zusammenhang mit dem Phänomen Ekel, wobei sie damit jedoch nicht die auslösenden Objekte bezeichnet, sondern die Beziehung einer Person zu ihnen und ihre Bewältigungsstrategie. So sind bei ihr nicht Spinnen „abjekt“, sondern die Angst vor ihnen. Laut Kristeva konfrontiert das Abjekte und damit auch der Ekel das Ich mit seinen Grenzen und seinen Ängsten und erfüllt damit eine wichtige Funktion, indem es die Unterscheidung zwischen „dem Selbst“ und „dem Anderen“ erst ermöglicht. Sie betrachtet die Abjektion als Teil der Ablösung von der Mutter, wobei sie klebrige, schleimige und diffuse Substanzen mit dem Mütterlichen assoziiert.[1] Ausgrenzung und Tabus sind nach Kristeva Phänomene der Abjektion, die dazu dienen sollen, bestimmte Grenzen, Regeln oder Systeme zu sichern. Wo es nicht möglich sei, etwas völlig auszugrenzen, gebe es in allen Kulturen bestimmte Reinigungsrituale mit dem Ziel einer Katharis. Diese kathartische Funktion übernehme auch die Kunst.[2]
Literatur
Antike
Die lateinische Dichtung der Antike enthält eine ganze Reihe von Ekel erregenden Beschreibungen, oft im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Während Vergil auf drastische Effekte weitgehend verzichtet, kommen sie bei Ovid vor, jedoch fast ausschließlich in seinem Werk Metamorphosen. Bei einer Schlacht von Kentauren schildert er sehr detailliert verschiedene Verwundungen und Verstümmelungen. „Mit Seneca erreicht die Darstellung des Grausigen in der römischen Dichtung ihren ersten Höhepunkt.“[3] Seneca ist ein Stoiker; die Schilderungen haben bei ihm die Aufgabe, die Unerschütterlichkeit seiner Helden deutlich zu machen, die sich auch von Ekel nicht bezwingen lassen. Das in seinen Tragödien immer wiederkehrende Motiv ist die Verletzung und Destruktion des menschlichen Körpers. Die drastischsten Szenen finden sich in seinem Werk Thyestes. Höhepunkt ist die Opferschlachtung der Söhne von Atreus und die Schilderung, wie sie als Mahlzeit zubereitet werden.[4]
„Kein Werk der römischen Literatur ist so reich an grausigen und ekelerregenden Partien wie die Pharsalia Lukans. (...) Lukans historisches Epos erscheint geradezu als Sammelbecken (...) römischer Überlieferung des Grauens.“[4] Geschildert wird die Schlacht von Pharsalos und der Untergang der Römischen Republik. Zwei Abschnitte darin sind der Verwesung von Leichen gewidmet, außerdem enthält es eine ausführliche Schilderung grausamer Todesszenarien als Folge von Schlangenbissen, u.a. die allmähliche Auflösung eines Körpers. Die Werke von Statius und Silius Italicus schwelgen etwas weniger in grauenvollen Motiven und knüpfen insofern eher an Ovid an.
Moderne Literatur
Motive des Ekelhaften finden sich schon in der vormodernen Literatur, allerdings in Form des Grotesken. Ein Beispiel ist Gargantua und Pantagruel von François Rabelais, wo Urin, Fäkalien und Körpersekrete eine Rolle spielen. Der Schriftsteller will damit jedoch keinen Ekel provozieren, sondern strebt den „Effekt eines befreienden Lachens“[5] an. Die literarische Behandlung dieser Motive verändert sich ausgehend von Voltaire, der in Candide das Hässliche und Abstoßende bewusst als Gegenbild zur Idee der Theodizee darstellt, in der auch das Böse stets einen Sinn hat.[6] Ein Zitat: „Als er am folgenden Tag spazierenging, begegnete er einem über und über mit Eiterbeulen bedeckten Bettler mit erloschenen Augen, zerfressener Nase, schiefstehendem Munde und schwarzen Zahnstümpfen, der jedes Wort heiser hervorgurgeln musste; fürchterliche Hustenanfälle quälten ihn, wobei er jedesmal einen Zahn ausspie.“
Der Bruch mit der Tradition der „schönen Künste“ findet sich auch bei Heinrich von Kleist. „Penthesilea (1808) ist das erste große Sprachkunstwerk des literarischen Extremismus. Das Drama will nicht mehr Furcht und Mitleid erregen, sondern provoziert Katharsis durch Ekel. (...) Spätere Autoren des 19. Jahrhunderts, man denke vor allem an die Romantiker, hüteten sich vor dem Extrem (...)“[7]. In Frankreich gehörten Georges Bataille, Charles Baudelaire, der Comte de Lautréamont, Paul Verlaine und Arthur Rimbaud zu den modernen Schriftstellern, die in ihren Werken Tabuisiertes teilweise drastisch darstellten. Abstoßendes wird von ihnen um seiner selbst willen behandelt, um das Leben auch in seiner „Brutalität und Animalität“ zu beschreiben. Baudelaires Les Fleurs du Mal lösten einen Skandal aus und führten zu einem Strafprozess.[6]
Gezielt auf Ekeleffekte setzen auch Vertreter des Expressionismus wie Gottfried Benn und Hans Henny Jahnn. „In ästhetischer Hinsicht ist der Extremist spezialisiert auf die Zerstörung literarischer Normen und sprachlicher Regeln. Seiner exzentrischen Sprache gepaart ist die Präferenz für Tabuisiertes oder Populäres (...)“[7]. Jahnns Drama Pastor Ephraim Magnus (1919) „ist ein absonderliches Repositorium an Gräuel und Schauerlichkeiten, die ihresgleichen suchen angesichts der extremen Häufung von Themen wie Nekrophilie, Kannibalismus, Kastration, Blasphemie, Inzest und Verwesung. (...) So explizit wie nirgends sonst nach Penthesilea basiert Jahnns Dramatik auf dem anti-ästhetischen Effekt des Ekels.“[7]
Ekel ist auch ein Schlüsselbegriff in Friedrich Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra. Zarathustra ist hier ein Vorläufer des erwarteten Übermenschen und als solcher ein Mensch ohne Ekel, so heißt es. In einer Szene stellt er sich jedoch seinen „abgründigsten Gedanken“ und bricht darauf in den Ausruf aus: „Ekel, Ekel, Ekel - wehe mir!“ Immer wieder wird in diesem Stück Ekelhaftes thematisiert und es wird „die gesamte Metaphorik des Spuckens, Herauswürgens, Erbrechens einschließlich aller Fäkalinjurien - eine ganze Welt des Pfui - bemüht.“[8] Die Überwindung jeglichen Ekels wird von Nietzsche als anzustrebendes Ziel dargestellt. Aus zahlreichen Aussagen geht hervor, dass der Philosoph selbst jedoch sehr ekelempfindlich war, was er euphemistisch als „Hypersensitivität“ umdeutet. „Der Ekel vor den gemeinen, gewöhnlichen Niederungen des Menschlichen findet sich bei Nietzsche bereits im Frühwerk, ebenso die Übertragung des Ekels aus der physiologischen in die moralische Welt.“[9] So schreibt er an einer Stelle: „Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinkts, so dass ich (...) das Innerlichste, die ‚Eingeweide‘ jeder Seele physiologisch wahrnehme - rieche (...) Wenn ich recht beobachtet habe, empfinden solche meiner Reinlichkeit unzuträgliche Naturen die Vorsicht meines Ekels auch ihrerseits (...) Der Ekel am Menschen, am ‚Gesindel‘ war immer meine grösste Gefahr (...)“.[10]
Der Schriftsteller Franz Kafka hat sich in privaten Briefen und Aufzeichnungen über persönliche Ekelgefühle geäußert. Als Motiv spielt diese Emotion in seiner Erzählung Die Verwandlung eine Rolle, in der sich der Protagonist über Nacht in ein Insekt („Ungeziefer“) verwandelt, worauf die Familie mit Entsetzen und zunehmendem Ekel reagiert.
In der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts wird Ekel häufig thematisiert, vor allem auch bei österreichischen Autoren. „Die Inszenierung des Häßlichen und Abstoßenden, welche seit der Lyrik Charles Baudelaires zu einem zentralen Thema der literarischen Moderne (...) geworden ist, ist in der österreichischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts auf geradezu beispiellose Art und Weise vertreten.“[5] Typische Vertreter sind Thomas Bernhard, Josef Winkler, Werner Schwab und Elfriede Jelinek. In ihren Werken kommt es zu zahlreichen Tabubrüchen, dargestellt mit den Mitteln einer „gewaltsamen Rhetorik“ (excitable speech), die auch den Körper der Leser angreifen will.[5]
Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre hat einen Roman mit dem Titel Der Ekel (La nausée) geschrieben, der als literarisches Hauptwerk des Existentialismus gilt. Der Ekel des Protagonisten richtet sich im Kern gegen die angenommene Sinnlosigkeit und Ungewissheit jeglicher Existenz. Bezeichnungen für diesen gewissermaßen rein geistigen Ekel sind Daseinsekel oder Weltekel. Die geschilderten Empfindungen der Hauptfigur Antoine Roquentin werden in der Psychologie jedoch der Melancholie zugeordnet und treten unter anderem bei Depressiven auf. „Die Melancholie kann aus existenzanalytischer Sicht folgendermaßen beschrieben werden: zum einen als Entfremdung des Menschen von sich selbst, den anderen und den Dingen, (...) zum anderen als Werdenshemmung, also als Abwandlung des Bezuges zur Zeit, der Zeitigung.“[11] Diese Entfremdung ist ein wesentliches Merkmal von Roquentins Befindlichkeit. Sartre wollte den Roman ursprünglich auch Melancholia nennen.
Kunsttheorie
„Auch das Erbrechen ist früher schon erwähnt worden. Mag es eine unschuldig krankhafte Affection, mag es Folge der Völlerei sein, immer ist es höchst ekelhaft. Dennoch haben Poesie wie Malerei es dargestellt. Die Malerei kann es durch die bloße Stellung andeuten, obwohl Holbein im Todtentanz sich nicht genirt hat, den Schlemmer ganz im Vordergrunde den genossenen Fraß wieder ausspeien zu lassen. In ihren Jahrmarkt- und Wirtshausscenen sind auch die Niederländer nicht blöde damit gewesen. (...) selbst eine komische Wendung ist möglich, wie in Hogarths Punschgesellschaft oder in jenem Gemälde einer griechischen Vase, wo Homer, auf ein Polsterbett hingestreckt, sich in ein am Boden stehendes Gefäß erbricht. (...) Um das Gefäß herum stehen eine Menge Zwergfiguren, die eifrig das Ausgebrochene wieder zum Munde führen. Es sind die spätern Griechischen Dichter, die von dem cynisch weggewofenen Überfluß des großen Poeten sich ernähren. Auch eine Apotheose Homers!“[12]
Abject Art
Die so genannte Abject Art ist benannt nach dem Begriff Abjektion, der 1980 von Julia Kristeva geprägt wurde. Wesentliches Merkmal der ihr zugerechneten Künstler ist die Arbeit mit Körperprodukten und „Ekelsubstanzen“ sowie die Thematisierung von Körpervorgängen, von Tod und Verwesung. Dieser Richtung werden u.a. Cindy Sherman, Robert Mapplethorpe, Mike Kelley, Damien Hirst, Matthew Barney, Kiki Smith und Sue Williams zugerechnet.
„Abject Art ist keine kunstwissenschaftliche Kategorie, sondern ein evokatives Label, das zur aktuellen (Selbst-)Darstellung einer Kunstszene und zu den Etiketten ihrer Vermarktung gehört. (...) Angesichts des häufigen Gebrauchs des Provokations- und Schock-Mechanismus scheint Abject Art sich nicht mehr sicher, daß er noch ein zuverlässiges Mittel gegen Langeweile (Baudelaire) oder gegen kulturelle Saturierungserscheinungen anderer Art ist. Der ernsthafte Wille zu schockieren (...) ist denn auch vielfach durch Signale augenzwinkernder Selbstironie gebrochen.“[13]
Körperekel/Altersekel
Friedrich Nietzsche: „Was davon (vom Körper, erg.) doch heraustritt, erregt Scham (Koth, Urin, Speichel, Same). Frauen mögen nicht vom Verdauuen hören. Byron eine Frau nicht essen sehen. (...) je unwissender ein Mensch über den Organismus ist, um so mehr fällt ihm rohes Fleisch Verwesung Gestank Maden zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich selbst ekelhaft - er thut alles, um nicht daran zu denken.“[14]
Bereits in der Antike war es üblich, den alternden Körper als unschön und ekelhaft zu bezeichnen, wobei sich die Aufmerksamkeit der männlichen Autoren ausschließlich auf den weiblichen Körper konzentrierte, während der männliche Alterungsprozess selten thematisiert wurde.
Der römische Dichter Horaz hat zu seiner zwölften Epode ausdrücklich vermerkt, dass er mit ihr den Begriff Ekel illustrieren wolle. Er benutzt dafür den literarischen Topos der vetula, der abstoßenden alten Frau. „Da du doch schwarze Zähne hast, mit Runzeln hohes Alter dir die Stirne furcht (...). Doch es erregt vielleicht der Busen mich? Die Brüste welk wie Stuteneuter! Der schlaffe Bauch, die Schenkel, strotzenden Waden dürre angefügt?“
„Fast alle Defekte des Ekel-Diskurses von den Schlegels (J.E. und J.A.) über Mendelssohn, Lessing und Herder bis Kant schießen regelmäßig in einem einzigen Phantasma zusammen: dem Bild der hässlichen Alten. Dieses Bild vereint Falten, Runzeln, Warzen, größere Öffnungen des Mundes und des Unterleibs, (...) üblen Geruch, ekle Praktiken und Nähe zu Tod und verwesendem Leichnam.“[15]
Einzelnachweise
- ↑ Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung, Artikel Abjection, 2002, S. 2
- ↑ Julia Kristeva, Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York 1982
- ↑ Manfred Fuhrmann, Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste, 3. Aufl. München 1991, S. 45
- ↑ a b Manfred Fuhrmann a.a.O. S. 50
- ↑ a b c Burkhard Meyer-Sickendiek: Ekelkunst in Österreich
- ↑ a b Alice Bolterauer: Im Blumengarten des Bösen. Die Geschichte des Widerlichen in der Literatur, in: Schreibkraft. Das Feuilletonmagazin, Ausgabe 04
- ↑ a b c Uwe Schütte: Ästhetik des zerspritzten Gehirns
- ↑ Pia Daniela Volz, Ekel und Ekel-Überwindung bei Nietzsche, in: Hermes A. Kick (Hg), Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten, Stuttgart 2003, S. 131
- ↑ Pia Daniela Volz a.a.O., S. 126
- ↑ zit. nach Pia Daniela Volz a.a.O., S. 124
- ↑ Wolfram Schmitt, Ekel und Langeweile - Aspekte einer existentiellen Melancholie bei Sartre und Moravia, in: Hermes A. Kick (Hg), Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften, S. 173
- ↑ Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, Darmstadt 1979, (EA 1853) S. 318
- ↑ Winfried Menninghaus a.a.O. S. 563 f.
- ↑ Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 1881, Bd. 9, S. 460
- ↑ Winfried Menninghaus a.a.O. S. 132