Depersonalisierung (Kunst)

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Als Depersonalisierung werden Tendenzen in der Kunst, Literatur und Theater bezeichnet, die angesichts der Verunsicherung über die zentrale Stellung des Subjekts um 1900 radikal vom Individuellen abstrahieren, das Individuum als bloßes Objekt erscheinen lassen, es aggressiv deformieren oder parodieren, bei der Personendarstellung nur das Typische hervorheben, anthropomorphe Figuren geometrisch, technisch-mechanisch verformen oder aus Objekten wie Maschinenteilen konstruieren.

Arcimboldo: Der Bibliothekar (1562), Schloss Skokloster

Frühe Beispiele

Vorläufer finden sich in der manieristischen Kunst, so in den aus Pflanzen oder anderen Objekten zusammengesetzten Porträts Giuseppe Arcimboldos oder bei Jacopo da Pontormo, der Äste in Form von Frauenkörpern zeichnet. Darin spiegelt sich die Vorstellung der engen Verbindung der Elemente der Natur miteinander und der Einheit des Menschen mit dem Kosmos, der Tier- und Pflanzenwelt.[1]

Hingegen entwerfen die Tropen der petrarkistisch-manieristischen Lyrik bei der Beschreibung vor allem des weiblichen Körpers einen virtuellen Kunstkörper, der das natürliche Original übertreffen soll. Durch die Überbetonung der Künstlichkeit dieser Kunstkörper, die in der stilistischen Hyperbolik der Körpergedichte Hoffmannswaldaus einen Höhepunkt erreicht, wird die Naturfeindschaft der modernen Kunst antizipiert. Depersonalisierung und Denaturierung des weiblichen Körpers mediatisieren ihn vollständig und machen ihn zur „Schrift“.[2]

Moderne und Avantgarde

Luigi Russolo: Plastische Synthese der Bewegungen einer Frau (1912), Musée de Grenoble

Naturfeindlichkeit zeigt sich vor allem in der entschiedenen Tendenz zur Depersonalisierung in der Kunst und Literatur des Expressionismus und Futurismus, des synthetischen Kubismus, Dadaismus und anderer Strömungen der Avantgarde, die sich vom Naturalismus und Impressionismus abwenden.

Bildende Kunst

Während die vorimpressionistische realistische und naturalistische Kunst bemüht war, die Subjektivität des Künstlers und seine Bearbeitungsweise hinter der dargestellten Person zurücktreten zu lassen, hebt der Expressionismus durch die Dekomposition und Depersonalisierung der Objekte paradoxerweise gerade die Persönlichkeit und Subjektivität des beliebig über die Körper verfügenden allmächtigen Künstlers hervor.[3] Ähnliches gilt für den Surrealismus, der Menschen aus ihrem gewohnten Kontext reißt, zerlegt und als fremde Objekte erscheinen lässt. Ein Beispiel dafür ist Salvador Dalís programmatisches Bild Metamorphose des Narziss (1937), in dem der sich in einem See spiegelnde Narziss durch anamorphotische Verwandlung als steinerne Hand und sein Kopf als Ei erscheint.[4] In anderen Fällen kann die Depersonalisierung jedoch auch den Zugang zum Innenleben einer dargestellten konkreten Person verschließen.

Theater

Nō-Maske: Je nach Neigung der Maske ergibt sich ein anderer Gesichtsausdruck

Besonders für das plurimediale Theater der Avantgarden erwies sich der Körper des Schauspielers, der im Vergleich zum Dramentext oder zur Ausstattung immer wichtiger wurde, als ein besonders problematisches Medium. Der Schauspieler arbeitet anders als der Maler oder Schriftsteller nicht mit abgelöstem Material, sondern mit seinem Körper, was den intendierten Ausdruck überlagert (Multicodierung). Daraus ergab sich der Zwang zur Reduktion, Abstraktion oder Maskierung wie im -Spiel oder Kabuki (dort durch maskenhaft aufgetragene Schminke), im Puppen- oder Marionettentheater. Der Schauspieler sollte zum perfekten Zeichenträger, zum reinen Medium werden. So sollte die Depersonalisierung zur Entwicklung des Theaters zur plurimedialen Kunst beitragen. Erste Impulse kamen um 1890 von dem belgischen Dramatiker Maurice Maeterlinck. Beginnend mit Alfred Jarrys König Ubu wurde der Schauspieler radikal depersonalisiert, sein phänomenaler Körper wurde ersetzt durch eine artifizielle, rein semiotische Figur. Damit wurde er zum anthropomorphen Zeichenträger und der Zuschauer durch Abstraktion und Reduktion bei Bühnenbild und Schauspieler zum imaginierenden Mitschöpfer.[5] In vielen expressionistischen Dramen oder Brechts Lehrstücken wird die Depersonalisierung durch Vermeidung von Individualnamen unterstützt („Der Erste“, „Zweite“, „Dritte“ usw.). Auch die Verwesungsmetaphern in der Lyrik Gottfried Benns oder in Reinhard Goerings Tragödie Seeschlacht sind ein Zeichen expressionistischer Depersonalisierung.

Forciert wird die Depersonalisierung auch durch eine stilisierte Stimmführung und Technisierung im Theater Max Reinhardts oder durch Techniken wie die Biomechanik Wsewolod Meyerholds, die durch genau definierte Bewegungen und Haltungen die zu zeigenden Emotionen initiieren sollten. Auch der Tanz der 1920er Jahre wird durch geometrische, maschinenhafte Bewegungen geprägt (z. B. Oskar Schlemmers Triadisches Ballett).

Musik

In der Musik sind Depersonalisierungs- und Denaturalisierungstendenzen schwieriger zu beschreiben, da Musik ohnehin abstrakter und konstruierter ist als eine Kunst oder Literatur, welche die Wirklichkeit beschreiben will. In der Musik äußert sich die Tendenz beispielsweise in der Durchmathematisierung der Komposition (z. B. Zwölftonmusik), Ablehnung einer melodischen, als „natürlich“ empfundenen Stimmführung (z. B. durch extreme Intervalle wie bei Arnold Schönberg), durch Betonung des Geräuschhaften wie bei Filippo Tommaso Marinetti oder durch komplizierte, „konstruierte“, maschinenartige Polyrhythmik wie in Arthur Honeggers Pacific 231.

Literatur

Beispiele für die Depersonalisierung in der Literatur sind die Erzählung Die Verwandlung von Franz Kafka (1912) oder die Phantasie des kleinen Angestellten Luís von der Dekonstruktion und Zerstückelung seiner Geliebten im neorealistischen Roman Angst von Graciliano Ramos (1936).

In der Literaturwissenschaft und Literaturkritik meint Depersonalisierung aber auch das Bestreben des Autors oder Literaturkritikers, die Aufmerksamkeit des Lesers von der Persönlichkeit des Urhebers wegzulenken auf den poetischen Text, die Tätigkeit des Schreibens oder die literarische Tradition, in der der Autor steht. So verlangte T. S. Eliot: „Der Fortschritt eines Dichters bedeutet, andauernd sich selbst zu opfern, seine eigene Persönlichkeit auszulöschen.“[6] Als Beispiel kann Eliots episches Gedicht The Waste Land (1922) dienen. Hier wird nicht das Objekt des Künstlers depersonalisiert; vielmehr verschwindet er selbst aus dem Kunstwerk.

Gesellschaftlicher Hintergrund

In der Verdinglichung des Dargestellten und im Vorherrschen des Konstruierten drücken sich die Objektivierung, Manipulation und Entindividualisierung der menschlichen Umgangsformen aus, die als typisch für die Industriegesellschaft und insbesondere für den Ersten Weltkrieg gilt und alle Formen des populären sentimentalen Realismus oder Naturalismus zerstörte. In dieser Tendenz ist bereits die Neue Sachlichkeit als ein Versuch der Objektivierung aller Lebensbereiche angelegt. Auch diese Gestaltungsform für fabrikmäßig produzierte Objekte, die nicht zum Besitz individueller Personen, sondern zur massenhaften Nutzung durch die Öffentlichkeit bestimmt sind, zeigt, dass die Industriegesellschaft den Individuen wenig Raum zur Selbstverwirklichung und -erfahrung bietet.

William Girometti: Illusorische Argumentation (1974). Das Bild zeigt den Einfluss von Archimboldo.

James Noyes hält Strömungen wie den italienischen Futurismus für eine ikonoklastische Bewegung, die klassische Idole auf symbolischem Wege zerstört.[7]

Kritik

Die Depersonalisierungs- und Denaturalisierungstendenzen der Avantgarde wurden vielfach von der konservativen, religiösen und rechtsgerichteten Kritik als Verlust an menschlicher Substanz oder an Gemütswerten kritisiert, so (allerdings mit ambivalenter Haltung) von José Ortega y Gasset,[8] der vor allem die dem Surrealismus nahestehende Literatur der Generación del 27 vor Augen hatte, von den Nationalsozialisten im Rahmen der Aktionen gegen Entartete Kunst, aber auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg von Hans Sedlmayr[9] und anderen.

Ortegas zielt mit seiner Kritik allerdings auf kein konkretes Kunstwerk und definiert auch den Begriff der Depersonalisierung nicht genau. Er bezieht ihn auf die Tendenz des gesamten Modernismus, sich immer weiter vom menschlichen Leben zu entfernen. Anders als die traditionelle Kunst gefalle die depersonalisierte Kunst der Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nicht. Die Masse verstehe das neuartige, anti-populäre, depersonalisierte Kunstwerk im Unterschied zur traditionellen Kunst nicht („no la entiende“), und zwar weniger wegen der ästhetischen Details, sondern weil es nicht ihr Leben reflektiere; die Minderheit hingegen verstehe es sehr wohl. Diese Art von Kunst strebe nicht mehr nach breiter Verständlichkeit. Allerdings erklärt Ortega die Ursachen dieser sozialen Spaltung nicht.

Literatur

  • Anke Bosse: Abstraktion der Bühne und Depersonalisierung. In: Primus-Heinz Kucher: Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde: Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938. Göttingen 2015, S. 65–78.
  • Richard Hamann, Jost Hermand: Expressionismus (=Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart. Band 5), Frankfurt 1977, S. 123 ff.

Einzelnachweise

  1. Pavel Preiss: Zum Anthropomorphismus in der manieristischen Kunst. Dissertation, Universität Brünn 1964 online
  2. Torsten Voss: Die Vernichtung des Körpers durch die Geburt des Kunstwerks in der petrarkistisch-manieristischen Lyrik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83(2009)1, S. 103–127.
  3. Man vergleiche etwa Pablo Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1912/13).
  4. Freund, Dalí and the metamorphosis of Narcissus auf freud.org
  5. Anke Bosse: Depersonalisierung des Schauspielers Zentrales Movens eines plurimedialen Theaters in Moderne und Avantgarden. In: Etudes Germaniques Nr. 264, 2011/4, S. 875–890.
  6. T. S. Eliot; Tradition and the Individual Talent (1919), zit. nach Katharina Maier: T. S. Eliot, in: Die großen Literaten der Welt: Amerika und Asien. Wiesbaden 2007.
  7. James Noyes: The Politics of Iconoclasm: Religion, Violence and the Cultureige of Image-Breaking in Christianity and Islam. London 2013.
  8. J. Ortega y Gasset: La deshumanización del arte. Ediciones Revista de Occidente, Madrid 1925, Neuausgaben 1991, 2005; dt. Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, München 1964; engl. The dehumanization of art, Princeton UP, 2019.
  9. Verlust der Mitte, Salzburg 1948.