Entdeckendes Lernen

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Ein Kind macht sich mit dem Flugverhalten eines Spielflugzeugs aus Styropor vertraut

Entdeckendes Lernen (auch Exploratives Lernen) ist eine Methode (vgl. Synonyme bei Handlungsorientierung) zur Aneignung von Wissen sowie physischen und technischen Fertigkeiten. Der Fokus der Betrachtung liegt bei dem Schüler und nicht bei der Vermittlung durch die Lehrperson. Seinen Ursprung in neuerer Zeit hatte das Entdeckende Lernen in den englischen Curricula der 1970er Jahre. Unter Bezug auf die Psychologen Jean Piaget und Jerome Bruner wurden lebendige Unterrichtsanregungen für den als science bezeichneten Unterricht auch für jüngere Altersstufen entwickelt. In den deutschen Sachunterricht haben Ansätze des entdeckenden Lernens zeitlich verzögert Eingang gefunden.

Der gedankliche Ansatz ist seit dem antiken Griechenland bekannt; der Begriff „Entdeckendes Lernen“ wurde von Bruner (1961, 1981) in der von ihm damit beeinflussten pädagogisch-didaktischen Diskussion geprägt.

Beim Entdeckenden Lernen stehen Lernanregungen oder Lernarrangements im Zentrum, die eigenaktives Lernen motivieren sollen. Das bestehende Wissen regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls durch aktuelles zu ersetzen, ist entscheidend für das Überleben in der heutigen Wissensgesellschaft.

“Education is what survives when what has been learned has been forgotten.”

„Bildung ist das, was überlebt, wenn das Gelernte vergessen wurde“

Der amerikanische Psychologe Burrhus Frederic Skinner: New Scientist, 21. Mai 1964

Formen des Entdeckenden Lernens

Eine Form des entdeckenden Lernens präsentiert den Lernenden das anzueignende Wissen und Können in Form einer selbst zu erarbeitenden Aufgabenlösung, was aus kognitionspsychologischen Erfahrungen einen eigenen Zugang zum Erlernten schafft und zugleich durch die eigenständig erarbeitete Erfahrung das Selbstbewusstsein stärkt und auf weitere Erfahrungen neugierig macht. Der Lehrer unterbreitet im Kontext des Faches Aufgabenstellungen, welche die Lernenden selbstständig bearbeiten und zu eigenständigen Lösungen führen. Im Gegensatz zu „freier Arbeit“ entscheidet der Lernende sich nicht selbst für das Thema des Unterrichts.

Eine andere Form des entdeckenden Lernens meint die Entdeckung der Welt durch die Lernenden selbst. Die Aufgaben suchen sich die Lernenden selbst, um Antworten zu Problemen ihrer (Er-)Lebenswelt allein oder gemeinsam mit anderen Lernenden zu finden. Vorteil dieser Form ist, dass die eigenständig erarbeiteten Erfahrungen in konkretem Bezug zur Lebenswelt der Lernenden stehen. Die Stärkung des Selbstbewusstseins erfolgt nicht nur aus der gelungenen Problemlösung heraus, sondern aus der konkreten Bewältigung von eigenen Alltagsfragen und -problemen.

Erste Form

Beschreibung

Im engeren und ursprünglichsten Sinn ist Entdeckendes Lernen eine Lernmethode im offenen Unterricht der Naturwissenschaften, die auf der freien Entdeckung von Naturphänomenen anhand von Versuchen beruht. In einem erweiterten Sinn kann entdeckendes Lernen aber auch in anderen Fachgebieten angewendet werden. Entdeckendes Lernen fängt mit der Beobachtung eines Objektes oder Phänomens an.

Bei der ersten Form des entdeckenden Lernens werden die Lernenden dazu geführt, ihre Beobachtungen aufzuschreiben und sich selbst über diese Phänomene Fragen zu stellen. Es ist dabei wichtig, dass sie die Möglichkeit bekommen, diese Fragestellungen frei zu entwerfen und zu beantworten. Um diese Fragen zu beantworten, können die Schüler neue Versuche ausprobieren, Literaturrecherche betreiben und/oder in diesem Gebiet berufstätige Personen oder Lehrer befragen. Da diese neuen Versuche oder Untersuchungen nicht vom Lehrer, sondern von den Schülern selbst angestoßen werden, öffnet sich der Unterricht progressiv und wird mehr und mehr auf die Schüler und ihre eigene Initiative zentriert.

Die Lernenden müssen ohne Hilfe des Lehrers Denkreise-Tagebücher führen, in denen sie ihre Beobachtungen, Ideen und Fragestellungen aufschreiben. Typischerweise sollte das Zusammenschreiben des Tagebuches ungefähr die Hälfte der Unterrichtszeit in Anspruch nehmen. Der Lehrer geht von Bank zu Bank und beobachtet, wie die Schüler arbeiten. Er ermutigt sie, ihre Ideen weiterzuentwickeln. Es ist dabei nicht wichtig, wie gut oder wie relevant diese Ideen sind. Umwege zu der korrekten Analyse der Phänomene und selbst Sackgassen sind ebenso lehrreich wie der kürzeste Weg.

Im Mittelpunkt stehen nicht die wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern die wissenschaftliche Methode.

Zur Bewertung des entdeckenden Lernens gehört nicht die Richtigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern die Gründlichkeit, mit der die wissenschaftliche Methode angewendet worden ist. Somit vermittelt dieser Ansatz insbesondere Methodenkompetenz. Eine richtige Reihenfolge von Hypothesen, Argumenten und Thesen zusammen mit einer klaren Darstellung der angewandtem Methoden und gesammelten Ergebnisse bezeichnen eine erfolgreiche Arbeit der Lernenden. Dagegen werden negative Ergebnisse, wie zum Beispiel das Verwerfen einer von einem Schüler entworfenen Hypothese, genauso bewertet wie positive Ergebnisse, die zu einer richtigen Interpretation der Phänomene führen.

Vorteile

Wenn das beobachtete Phänomen und die entsprechenden Materialien richtig vom Lehrenden ausgewählt worden sind, führt diese Methode zu einer dauerhaften Aneignung der wissenschaftlichen Methode. Diese Methode ist effizienter, wenn sie nicht nur einmalig, sondern regelmäßig angewendet wird – dann können die Schüler selbsttätiger, freier und effizienter mit ihr umgehen. Ein Ziel der Methode ist es, den Schülern Autonomie beizubringen. Der Lehrer sollte so wenig wie möglich in die Arbeit der Schüler eingreifen, um deren Eigeninitiative nicht zu beeinträchtigen. Eine wichtige Komponente dieser Selbständigkeit ist die Zeiteinteilung. Die Schüler sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Arbeitszeit selbst einzuteilen. Schüler sollten zum Beispiel in der Lage sein, selbständig abzuschätzen, ob oder in welcher Zeitdauer ein Versuch oder eine Literaturrecherche machbar ist. Üblicherweise wird entdeckendes Lernen in kleinen Gruppen von zwei oder drei Schülern praktiziert. Entdeckendes Lernen trägt deswegen auch dazu bei, die Teamfähigkeit und die sozialen Kompetenzen der Beteiligten zu verbessern. Da der Schwerpunkt des entdeckenden Lernens auf der Vermittlung einer Lernmethode und nicht auf Wissensvermittlung liegt, reicht diese Methode jedoch nicht aus, um den gesamten schulischen Stoff zu vermitteln. Es ist deswegen wichtig, diese Methode mit anderen Unterrichtsformen zu kombinieren. Entdeckendes Lernen ist am besten einsetzbar als Einführung in ein neues Kapitel. In diesem Zusammenhang kann diese Methode sehr nützlich dazu sein, um Vorkenntnisse, Interesse und Motivation sowie Lerntypen der Lernenden zu identifizieren. Der Lehrende kann so den darauf aufbauenden Unterricht besser konzipieren und an die Bedürfnisse der Schüler anpassen.

Nachteile

Als Nachteil der Methode gilt, dass sie nur bedingt mit dem 45-Minuten-Takt des Unterrichts vereinbar ist. In der Praxis des Unterrichts müssen die Schüler in der Lage sein, ihre Arbeitszeit selbst zu planen. Es ist nicht von vornherein klar, wie lange ein noch nie ausprobierter Versuch dauern wird oder wie lange ein Schüler brauchen wird, um eine Literaturrecherche zu betreiben.

Das größte Risiko der Methode besteht in dem unvorhersehbaren Zeitaufwand, den der Schüler braucht, um selbst Ideen zu entwickeln. Da sollte der Lehrer seine Hilfe anbieten und die Lernenden dazu ermutigen, auch unsichere Entdeckungswege zu betreten.

Das Zeitdruck-Problem kann dadurch reduziert werden, dass man zwei Unterrichtsstunden im Lehrplan zusammenlegt. Bei einem Mathematik- und Physiklehrer kann es beispielsweise vorkommen, dass zwei Unterrichtsstunden der beiden Fächer am selben Tag stattfinden. Solche Fälle sind besonders geeignet, um einen auf entdeckendes Lernen basierten Unterricht in die Praxis umzusetzen.

Da heute Frontalunterricht in der Praxis immer noch das schulische Lernen dominiert, wird auch die Umstellung vom lehrer- zum schülerzentrierten Unterricht, die das Entdeckende Lernen impliziert, als Schwierigkeit und Hindernis bei der Realisierung zitiert.

Die Lehrer müssen ihre dominierende Position langsam abbauen, und die Schüler müssen lernen, selbsttätig und selbstständig zu werden. In dieser Hinsicht bieten andere Unterrichtsmethoden, wie zum Beispiel die Stationenarbeit, einen einfacheren Einstieg in offene Lernsituationen. Weiterhin ist es fraglich ob die Schüler nach ihrem individuellen Lernstand gefördert werden: Offene Unterrichtsformen bieten oftmals größere Chancen für stärkere Schüler, während schwachen Schülern häufig die Übersicht bzw. Struktur fehlt. Ebenfalls ist auch die Differenzierbarkeit der Aufgaben gefährdet, weil es oft nur wenige Aufgabenformate gibt (vgl. Operative Aufgabe in der Mathematik).

Auch aus motivatorischer Sicht sind Einwände bekannt, denn beim Entdeckenden Lernen wird die Motivation vorausgesetzt, was oft die Schulrealität verfehlt. Somit haben auch starke Schüler häufig „keine Lust“, sich unter viel Zeitaufwand einem Wissensbereich zu nähern.

Die Inklusion stellt eine weitere Hürde in der Realisierbarkeit von Entdecker-Aufgaben dar, denn meist reichen weder Motivation, Geduld und Strukturiertheit noch das Vorwissen aus, um sich das Wissen selbstständig anzueignen.

Beispiele

Im Physikunterricht

Die Entdeckung des Archimedischen Prinzips ist besonders gut geeignet für die Realisierung des entdeckenden Lernens. Auf jede Schulbank wird ein mit Wasser gefülltes Gefäß gestellt sowie eine Sammlung unterschiedlichster Gegenstände gelegt. Diese Elemente können durch andere Flüssigkeiten wie Öl oder Essig ergänzt werden. Salz kann auch zur Verfügung gestellt werden, um es im Wasser zu lösen. Mit Hilfe von Waagen und Dynamometern können Schüler frei untersuchen, welche Gegenstände in welchen Flüssigkeiten sinken, schweben oder schwimmen und warum.

Im Mathematikunterricht

Auch in der Mathematik kann das Prinzip des entdeckenden Lernens eingesetzt werden. Schüler können zum Beispiel anhand von kubischen Klötzen untersuchen, welche und wie viele geometrische Formen man mit einer gegebenen Anzahl von Klötzen aufbauen kann. Viele Eigenschaften der natürlichen Zahlen können so entdeckt werden. Zum Beispiel können Schüler beobachten, dass ein aus Klötzen zusammengelegtes Viereck, in dem die Klötze in zwei Reihen und vier Spalten angeordnet sind, genauso viele Klötze enthält wie ein aus vier Reihen und zwei Spalten bestehendes Viereck. Die Kinder können an diesem Beispiel die Gültigkeit des Kommutativgesetzes der Multiplikation einsehen und die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes vermuten. Genauso können Kinder spielerisch entdecken, dass manche Zahlen – die Primzahlen – nur zwei Teiler besitzen (eins und die Zahl selbst). Als Anschauungsmaterial stehen dem Lehrer hier viele Materialien zur Verfügung, beispielsweise ist Obst eine gute Idee, den Kindern gesunde Ernährung und zugleich auch das Rechnen mit Primzahlen zu ermöglichen. Eine weitere Möglichkeit ergibt sich aus dem Zählen einzelner Wurstscheiben in einer Packung, um die ungefähre Verteilung des Gewichtes dieser Scheibe auf die Gesamtpackung und die Menge zu errechnen. Das Wiegen der Gesamtpackung und das Errechnen der Differenz zwischen Gesamtpackung und Inhalt ergeben sich daraus. Auf diese Weise können Kinder leicht das Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren lernen.

In der Verkehrserziehung

In der Verkehrserziehung findet das entdeckende Lernen vor allem im Vorschul- und Grundschulbereich ein fruchtbares Anwendungsfeld: Die noch sehr neugierigen Kinder dürfen schon vor der Einschulung über die Methode Schulwegspiel ihren bevorstehenden Schulweg in Begleitung erwachsener Betreuer selbstständig erkunden und in die Form eines eigenen Brettspiels bringen. Schulanfänger erarbeiten sich auf dem Wege zu dem begehrten Fußgängerdiplom in einem fächerübergreifenden Projekt miteinander den Umgang mit dem Verkehr und seinen Gefahren in ihrem Wohngebiet. Sie schaffen sich selbst die Regeln für einen reibungslosen Kreuzungsverkehr auf dem Schulgelände. Sekundarschüler entdecken ihr Problembewusstsein, indem sie Beobachtungen von Verkehrsverhalten (Aggressionen, Vorteildenken, aber auch Hilfsbereitschaft und Toleranz) und Erfahrungen mit Risiken beim Verkehren (Geschwindigkeitsrausch, Mutproben) in eigenen Verkehrsfabeln verdichten. Um die unterschiedlichen Lernpotenzen der Schüler erreichen zu können, wird das Entdeckende Lernen in der Praxis meist mit dem Mehrdimensionalen Lernen gekoppelt.

Zweite Form

Beschreibung

Kinder bilden schon vor der Einschulung Vorstellungen darüber, wie die Welt funktioniert. Diese Vorstellungen können richtig oder fehlerhaft sein. In der Gemeinschaft der Schulklasse treffen nun die Kinder und ihre Vorstellungen aufeinander. Aus dem Vergleich entsteht die Notwendigkeit, Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzuspüren und eventuell zu überprüfen. Dabei spielen mehrere (auch unwissenschaftliche) Faktoren eine Rolle: Freundschaften, Vertrauen, … Der Vergleich mit der Realität steht für Kinder nicht unbedingt an erster Stelle. So können einige Kinder begeistert richtige Versuche starten und andere sehr zurückhaltend an der Meinung einer für sie wichtigen Person festhalten.

Je nach Entwicklungsstand werden auch die Meinungen anderer Kinder geprüft. Widersprüche münden in Untersuchungen und führen zu neuen Erklärungsversuchen. Der Fortschritt in der Meinungsbildung folgt dabei keinem linearen Weg und keiner sinnhaften Abfolge, sondern kann auch mehrere Zwischenschritte überspringen – je nach Erfahrungsstand der Kinder.

Eine Aufteilung dieses ganzheitlichen Prozesses in Fächer, willkürliche Zeiteinheiten, oder der Zwang im gleichen Arbeitstempo mit anderen gemeinsam an Vorstellungen, die man selbst gar nicht hat, arbeiten zu müssen, steht dieser Form des entdeckenden Lernens entgegen.

Siehe auch

Literatur

Erste Form

  • Verena Steiner: Exploratives Lernen. Der persönliche Weg zum Erfolg. Ein Arbeitsbuch für Studium, Beruf und Weiterbildung. Pendo Verlag, 2006, ISBN 3-86612-032-X.
  • Gesine Hellberg-Rode: Entdeckendes Lernen. In: Astrid Kaiser, Detlef Pech (Hrsg.): Neuere Konzeptionen und Zielsetzungen im Sachunterricht. Basiswissen Sachunterricht, Band 2. Baltmannsweiler 2004, S. 99–104.
  • S. Liebig: Entdeckendes Lernen – wieder entdeckt? In: M. Aepkers, S. Liebig (Hrsg.): Entdeckendes Forschendes Genetisches Lernen. Hohengehren 2002, S. 4–16.

Zweite Form

  • Célestin Freinet, (R. Kock (Hrsg.)): Methoden der Emanzipation. Frankfurt am Main 1999.

Weblinks