Föderalismus in der Schweiz

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In der Schweiz gehören Föderalismus und Subsidiarität zu den Grundprinzipien des Bundesstaates seit seiner Gründung 1848.

Prinzip

Hauptgedanke ist, wenn möglich Verantwortung an kleinere Strukturen zu übertragen, wo die Nähe zu den Betroffenen grösser ist: vom Bund an die Kantone, von den Kantonen an die Gemeinden. Das führt im Idealfall zu Gesetzen und Regelungen, die auf lokale Bedürfnisse zugeschnitten sind, was einerseits deren Akzeptanz erhöhen und anderseits eine fruchtbare Konkurrenz zwischen Kantonen und Gemeinden um niedrigere Steuern, effizientere öffentliche Verwaltung und andere Standortvorteile bewirken soll. Allerdings erhöht sich im Vergleich zum zentralistischen Staat, unter der Annahme in sich gleich effizient organisierter Strukturen, dadurch der Regierungs- und Verwaltungsaufwand, führen die Unterschiede in den Rechtssystemen zu zusätzlichen Kosten für Bürger und Unternehmen und werden Wohnortwechsel dadurch erschwert (z. B. Wechsel des kantonal geregelten Schulsystems).

Der diesem Prinzip zugrundeliegende Artikel der Bundesverfassung lautet:

Art. 3 Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.

Die Glied- oder Teilstaaten der Schweiz verfügen über voll ausgebaute staatliche Strukturen und damit über eigene politische Institutionen für die Exekutive, die Legislative und die Judikative. Hierin entspricht der schweizerische Föderalismus demjenigen Deutschlands und der Vereinigten Staaten von Amerika, die ebenfalls historisch von unten nach oben aufgebaut worden sind. Er unterscheidet sich aber vom Föderalismus in Ländern wie Österreich oder Belgien, die zuerst ein Einheitsstaat waren, bevor sie föderalisiert wurden, und deren Teilstaaten nur eine unvollständige Staatlichkeit kennen, indem die Judikative eine Angelegenheit des Zentralstaats geblieben ist.

Der schweizerische Föderalismus ist Ausdruck eines liberalen Staatsbegriffs (schlanker Staat). Seit Jahrzehnten sind jedoch Zentralisierungstendenzen zu beobachten, die mit dem Hinweis auf ein Bedürfnis nach einheitlicher Regelung und auf Doppelspurigkeiten die kantonalen Kompetenzen beschneiden. Die Rechtsvereinheitlichung wird auch durch die Europäisierung des nationalen Rechts gefördert. Im Weiteren führt die zunehmende interkantonale Zusammenarbeit auf der Ebene von regional oder sachlich definierten Regierungskonferenzen (Ostschweizer Regierungskonferenz, Erziehungsdirektorenkonferenz usw.) und Konkordaten zu einer neuen, demokratisch schwach legitimierten und die Zuständigkeiten verwischenden Staatsebene zwischen dem Bund und den Kantonen. Die Summe dieser Vorgänge haben den Föderalismus sukzessive geschwächt.[1]

Aufgabenteilung

Der Bund darf nur Aufgaben übernehmen, die ihm ausdrücklich in der Bundesverfassung übertragen sind. Alle anderen staatlichen Aufgaben werden von den Kantonen geregelt (oder von diesen an die Gemeinden delegiert). Da für Verfassungsänderungen auch das Ständemehr (Mehrheit der Kantone) nötig ist, können den Kantonen nur Kompetenzen entzogen oder zusätzlich übertragen werden, wenn nebst der Mehrheit der Stimmbürger auch die Mehrheit der Kantone zustimmt.

Der Bund ist vollständig oder weitgehend zuständig für die Gesetzgebung über (Art. 54–125):

Weitgehend oder vollständig in der Gesetzgebungskompetenz der Kantone liegen:

Viele Aufgaben sind geteilt.

  • Oft kommt es vor, dass der Bund allgemeine Regeln aufstellt und die Kantone für deren Ausgestaltung zuständig sind. Dies gilt beispielsweise für die Raumplanung oder das Forstrecht.
  • Eine andere, häufig angewandte Möglichkeit ist, dass der Bund die einen, die Kantone die anderen Aspekte ordnen. So regelt im Jagdrecht das Bundesrecht den Wildschutz, das kantonale Recht das Jagdsystem, im Fischereirecht der Bund den Artenschutz, die Kantone die Nutzung der Bestände, die erlaubten Fanggeräte usw., oder im Wasserrecht der Bund den Gewässerschutz, die Kantone die Wassernutzung, oder im Anwaltsrecht der Bund die Freizügigkeit der Anwälte, die Kantone den Erwerb des Anwaltspatents.
  • Es gibt auch parallele Kompetenzen, insbesondere im Kulturbereich, in dem Bund, Kantone und Gemeinden je selbständig Massnahmen treffen können.
  • Selbst dort, wo der Bund das materielle Recht regelt, sind oft die Kantone für die konkrete Umsetzung zuständig. Die hierzu nötigen Organisations- und Verfahrensbestimmungen werden dann in kantonalen Einführungsgesetzen erlassen.

Eine weitere Variante der Rechtsetzung sind die Konkordate zwischen den Kantonen: mehrere (oder sogar alle) Kantone einigen sich unabhängig vom Bund darauf, gewisse Aufgaben aus ihrer Zuständigkeit (Fachhochschulen, Lehrerausbildung, Strafvollzug) gemeinsam zu lösen. Verträge in ihren Zuständigkeitsbereichen können die Kantone auch mit dem Ausland schliessen.[2]

Mitwirkung in Bundesangelegenheiten

Die Mitwirkung der Kantone in Bundesangelegenheiten geschieht im Wesentlichen auf vier Arten:

  • Bei einer Vernehmlassung werden alle betroffenen Kantone zur Stellungnahme eingeladen. Sie können so ihre Ansichten einfliessen lassen, bevor das Gesetz überhaupt formuliert wird.
  • Die kleine Kammer des Parlaments, der Ständerat, wird oft als «Vertretung der Kantone» bezeichnet, was allerdings nicht zutrifft: Ständeräte stimmen ohne Instruktionen ihrer Kantone und sind in der Ausübung ihres Mandates völlig frei («Senatsmodell»). Jeder Kanton stellt zwei Ständeräte (Halbkantone einen), die in der Regel in Majorzwahl vom Volk gewählt werden. Alle Beschlüsse der Bundesversammlung (insbesondere Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse) benötigen die Zustimmung von Ständerat und Nationalrat.
  • Verfassungsänderungen benötigen zwingend das Volksmehr und das Ständemehr.
  • Die einzelnen Kantonsregierungen versuchen, direkt die Regierung und die Parlamentarier des Bundes zu beeinflussen («Lobbying»).

Zusammenarbeit der Kantone unter sich und mit dem Ausland

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Jürg Marcel Tiefenthal: «Vielfalt in der Einheit» am Ende? Aktuelle Herausforderungen des schweizerischen Föderalismus. EIZ, Zürich 2021, ISBN 978-3-03805-402-3.
  2. Bardo Fassbender, Raffael Gübeli: Die gegenwärtig gültigen völkerrechtlichen Verträge der Kantone. Versuch einer systematischen Bestandesaufnahme. In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. 3, 2018, S. 107–123 und I–XLVII (Digitalisat).