Ius gentium

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Als Ius gentium, lateinisch für „Recht der Völker“, wurden im römischen Recht die Bestimmungen bezeichnet, welche den Umgang mit Auswärtigen oder Fremden, den peregrini regelten. Dieser, auf Hugo Grotius zurückzuführenden, Definition lag ursprünglich allerdings eine noch allgemeinere Bedeutung zugrunde: die des „Rechts, das bei allen Völkern gleich war.“[1]

Abgrenzung

Im Gegensatz dazu stand das ius civile. Als heimisches Recht galt es für Angehörige des Reiches, also Personen, die das römische Bürgerrecht innehatten. Das ius civile kann somit als „Bürgerordnung“ verstanden werden, das seit der Zeit der Republik zunehmend durch leges geregelt war. Daneben stand das Gewohnheitsrecht, das aus unvordenklichen Zeiten mit dem mos maiorum verknüpft war. Das ius gentium hingegen war ausschließlich durch Gewohnheits- und ediktorisches Amtsrecht geprägt.[2] Unterlagen Regelungen und Einrichtungen den allgemeinen Praktiken des Mittelmeerraums, so konnten sie als ius gentium erfasst werden, so beispielsweise die Sklavenregelungen.[3][4] Die abstrahierende Begriffspaarbildung ius civile/ius gentium wird auf Cicero zurückgeführt,[5] eine rechtlich systematische Entwicklung lag den Rechtskategorien nicht zugrunde.

Eine Abgrenzung des ius gentium von dem als ius naturale bezeichneten Naturrecht ist über die Auffassungen des Kirchenlehrers Aurelius Augustinus und die schriftlichen Zeugnisse des römischen Rechtsgelehrten Ulpian möglich. Augustinus zufolge sei das ius gentium als Recht aller Vernunftwesen zu verstehen. Diese Vernunftwesen können durch den rechten Gebrauch ihrer Vernunft auf dieses Recht kommen. Das Naturrecht hingegen gehört gemäß Ulpian nicht nur dem Menschengeschlecht, sondern allen Lebewesen. Dazu zählt er Ehe und Familie, da die Verbindung von Mann und Frau und die Kindererziehung als ebenso typische Prozesse sich im Tierreich wiederfänden.[6][1]

Die Normierung des ius gentium beruhte auch auf praktisch-faktischen Gründen: Auswärtige und Ausländer, welche die lateinische Sprache nicht oder nur unzureichend beherrschten, waren mit der römischen Formstrenge der üblichen Rechtsgeschäfte (Obligationen) und der Umsetzung daraus resultierender Ansprüche im Prozess oft überfordert. Etwas anderes galt lediglich für Verträge, die formfrei abgeschlossen werden konnten, namentlich die Konsensual- und Realvertragstypen. Allerdings gab es dabei Einschränkungen, denn Fremde konnten derartige Verträge nur dann abschließen, wenn die Rechtsbeziehungen Vermögensrechte unter Lebenden betrafen. Verbal- oder Litteralkontrakte waren „formstreng“ aufgebaut[7] und fanden gegenüber Fremden keine Anwendung. Im Verkehr mit diesen wurden sie durch treugläubige Grundsätze (bona fides) ersetzt. Nochmals anderes galt für die Materien des Erb- und Sachenrechts; diese Rechtsgebiete waren ausschließlich für römische Bürger geregelt. So konnten Fremde Eigentum weder kraft Mancipatio noch in iure cessio erwerben.[8] Vom ius gentium überschnittenes ius civile bezeichneten die Römer ursprünglich als ius quiritium.[8]

Bedeutungsverlust

Das Nebeneinander der Rechtsschichten von ius civile, ius honorarium und ius gentium wurde Ende des dritten Jahrhunderts durch diokletianisches Recht praktisch überwunden.[9][10] Seit Justinian gilt es als abgeschafft.[8] Die Oberhand erlangten zunehmend Senatskonsulte. Diese unterschieden immer weniger nach Kriterien des Bürger- oder Fremdenrechts. Auch die aufgekommenen Kaiserkonstitutionen verloren in der Spätphase der Spätantike ihre Bedeutung.[11]

Gegenwärtige Verwendung

Im gegenwärtigen juristischen Sprachgebrauch steht der Begriff des ius gentium für diejenigen Grundsätze und Normen im Privat- und öffentlichen Recht, die den Rechtssystemen aller Völker gemeinsam sind und deshalb, bereits von Cicero und ihm nachfolgenden Juristen, als „Recht aller Menschen“ beziehungsweise Völkergemeinrecht bezeichnet wurden. Zum Teil wird der Begriff ius gentium aufgrund seiner sprachlichen Bedeutung auch als Synonym für das Völkerrecht verwendet, auch wenn dieses vor allem zwischenstaatliche Beziehungen regelt. Als ius civile wird demgegenüber heutzutage das Zivilrecht eines bestimmten Landes bezeichnet, das vor allem als kodifiziertes positives Recht in Form von nationalen Gesetzen besteht.

Literatur

  • Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Auflage 2001) (Böhlau-Studien-Bücher) ISBN 3-205-07171-9, S. 24, 26, 30, 48.
  • Heinrich Honsell: Römisches Recht, 5. Auflage, Springer, Zürich 2001, ISBN 3-540-42455-5, S. 20.
  • Max Kaser: Das Römische Privatrecht. 2. Auflage, C.H. Beck, München/Würzburg 1971, ISBN 3-406-01406-2, § 50, S. 202–205.
  • Max Kaser: Ius gentium, Böhlau Köln, Weimar, Wien 1993, ISBN 3-412-05893-9.
  • Hans Josef Wieling: Die Begründung des Sklavenstatus nach ius gentium und ius civile, in: Corpus der römischen Rechtsquellen zur antiken Sklaverei (CRRS), hrsg. von Johannes Michael Rainer, Tiziana Chiusi, Steiner Stuttgart 1999, ISBN 3-515-07488-0.
  • Fritz Sturm: Ius gentium. Imperialistische Schönfärberei römischer Juristen, in: Römische Jurisprudenz – Dogmatik, Überlieferung, Rezeption. Festschrift für Detlef Liebs zum 75. Geburtstag, hrsg. von Karlheinz Muscheler, Duncker & Humblot, Berlin (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 63), S. 663–669.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4, S. 202.
  2. So bereits in der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit Moritz Voigt: Die Lehre vom jus naturale, aequum et bonum und ius gentium der Römer (1856), Band 2, S. 62 ff. und 69 ff.; Ludwig Mitteis: Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs. Leipzig 1891, Nachdruck Hildesheim 1963, S. 116 f.; Moriz Wlassak: Römische Prozeßgesetze, Band 2, Leipzig 1889–1891, S. 93–182.
  3. Florentinus in Digesten 1,5,4,1.
  4. Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Auflage 2001) (Böhlau-Studien-Bücher), ISBN 3-205-07171-9, S. 48.
  5. Max Kaser: Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode. In: Forschungen zum Römischen Recht. Band 36. Verlag Böhlau, Wien/Köln/Graz 1986, ISBN 3-205-05001-0, S. 90 f.
  6. Ulpian in Digesten 1.1.1.2: Ulpian verweist hier darauf, dass das Privatrecht aus drei Teilen bestünde, dem ius naturale, dem ius gentium und dem ius civile.
  7. Das alte ius civile war nahezu ausschließlich vom Formalgeschäft geprägt, das die Spätklassiker Papinian als Actus legtimi (vgl. insoweit: D. 50,16,77) und Ulpian als Negotia civilia bezeichneten.
  8. a b c Ludwig Mitteis: Römisches Privatrecht bis auf die Zeit Diokletians. 1: Grundbegriffe und Lehre von den Juristischen Personen. Leipzig 1908 (Scientia Verlag, Aalen 1994), § 4 (Jus civile und Jus gentium), S. 62–72.
  9. Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Auflage 2001) (Böhlau-Studien-Bücher), ISBN 3-205-07171-9, S. 48.
  10. Fritz Sturm: Ius gentium. Imperialistische Schönfärberei römischer Juristen, in: Römische Jurisprudenz – Dogmatik, Überlieferung, Rezeption. Festschrift für Detlef Liebs zum 75. Geburtstag, hrsg. von Karlheinz Muscheler, Duncker & Humblot, Berlin (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Bd. 63), S. 663–669.
  11. Ludwig Mitteis: Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs. Leipzig 1891, Nachdruck Hildesheim 1963, S. 120.