Codex Gregorianus

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Der Codex Gregorianus (entspricht oströmischer Bezeichnung;[1] in Westrom: Gregorianus,[2] Corpus Gregoriani;[3] generell kurz: CG) ist eine um die Wende vom 3. auf das 4. Jahrhundert verfasste und nach sachlichen Gesichtspunkten zusammengestellte Privatsammlung von Juristenschriften und Kaiserkonstitutionen mit Gesetzeskraft. Der Codex gehört in die Zeit des nachklassischen Rechts, ist selbst im Urtext nicht erhalten geblieben, findet sich aber in mehreren späteren Sammlungen und Kodifikationen wieder.

Geschichte des Codex

Erstellt wurde das Werk wohl 291 auf Veranlassung des römischen Kaisers Diokletian in Rom.[4] Theodor Mommsen und andere, waren noch von einer Herstellung in Beirut ausgegangen,[5][6] dies auch zu einem späteren Zeitpunkt zwischen 297 und 302. Die Collatio gibt jedenfalls mehrere Hinweise auf die Entstehung von Gesetzen oder deren gesicherte Datierung in den 290er-Jahren.[7] Der Kaiser hatte einen der Vorsteher seiner Libellkanzlei (wohl namens Gregorius[8]) beauftragt, alle Kaiserentscheidungen seit Hadrian zu sammeln und zu veröffentlichen. Der zumeist gebrauchte Werksbegriff „Privatsammlung“ darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Codex mit offiziellem Charakter ausgestattet war, also allgemeinverbindliche Außenwirkung hatte. Mit dem Auftrag verband sich ein Doppeltes: bestehendes Gesetzes- und Rechtsmaterial war zu sichten, zu sammeln und festzuhalten, und den zusammengetragenen Anordnungen zur Rechtsverbindlichkeit zu verhelfen. Zwar ließ Diokletian den Codex nicht dem Senat zur Ratifizierung vorlegen, allerdings darf daraus nicht geschlossen werden, dass dem Werk kein offizieller Charakter zugemessen war. Denn: die Rechtswissenschaft selbst und deren Literaturproduktion unterstand der kaiserlichen Kompetenz, die alle bürokratischen Vorgänge des Staates umfasste.[9] Die umfassende Einbindung des Codex in seinen Willensbereich, erhob den Codex zu einer Kaiserkonstitution.

Gegen Ende des 3. Jahrhunderts umfasste das römische Privatrecht zwei große Schriftmassen. Zum einen waren das verbindliche klassische Juristenschriften (iura), zum anderen Kaiserentscheidungen (leges), insbesondere Reskripte, also Bescheidungen von bürgerlichen Anträgen, die einzelfallbezogene Rechtsfragen regelten.[10] In hierarchischer Hinsicht hatten die Kaiserkonstitutionen gegenüber den klassischen Juristenschriften Vorrang. Die Schriften der Juristen entstammten der hoch- und spätklassischen Epoche. Vertreten waren dabei Gaius und Ulpius Marcellus, Rechtsgelehrte der späten Hochklassik, daneben auch Papinian und Ulpian, je Repräsentanten der Spätklassik. Diokletian lag nun daran, dass beide Massen allgemein zugänglich gemacht würden. Da der Codex nach Fertigstellung rasch Anerkennung fand, gab Diokletian wenig später noch den 293/294 entstandenen Codex Hermogenianus in Auftrag. Verfasst wurde der von Hermogenian (bekannt auch für dessen iuris epitomae), Kanzleileiter (magister libellorum) des Kaisers Spitzenbehörde in den Jahren von 293 bis 295.

Nach Fertigstellung war das Werk in 15 oder 16 Bücher (libri) zu je 20 bis 40 Sachtiteln gegliedert. Liebs bezweifelt eine korrekte Überlieferung der Collatio,[11] wonach 19 Bücher beinhaltet gewesen seien.[12] Über den Kompilator selbst, der offenbar Gregorius oder – was unwahrscheinlicher ist – Gregorianus hieß, ist nichts bekannt, außer dass er über herausragende juristische Fähigkeiten verfügt haben muss und mit einer didaktischen Methode, die wohl häufig belehrend gewirkt haben soll, an den römischen Traditionen festhielt.[13] Liebs verweist bezüglich der Werksgestaltung darauf, dass Gregorius den Stoff sehr weit durchgegliedert habe und dabei neue Rechtsgattungen entstanden seien. Entgegen Fritz Schulz,[14] geht Liebs zudem davon aus, dass bis dahin keine vergleichbaren Kompilationen geschaffen worden seien. Seinem Inhalt nach stelle das Werk insoweit etwas Neues dar, als Gregorius auch fremde Substanz in das Werk aufgenommen habe, etwa die libri XX, Abhandlungen zu De constitutionibus, aus der Rechtsschule von Beirut. Geordnet seien die Materien nach einem „modifizierten Digestensystem“ (heute Codexsystem), das sich methodisch bereits weit von den hochklassischen Digestenwerken entfernt habe.[12] Aufgrund des Fehlens ursprünglicher Skriptfassungen und sekundärer Überlieferungsliteratur, gestaltet sich für die Quellenforschung die Klärung der Frage besonders schwierig, ob Gregorius in die Inhalte eingegriffen hatte. Sie kommt gleichwohl zu dem Ergebnis, dass prägregorianische Texte, die später in den Codex Iustinianus eingeflossen seien, für den Codex gekürzt und teils gestrichen worden waren. Diverse Texte seien zudem auf Inhaltsangaben reduziert worden und bezüglich präpertinakischer Konstitutionen in weiten Teilen gar nicht mehr wiedergegeben worden, stattdessen seien Wiedergaben der klassischen Juristenliteratur entnommen worden.[15][12]

Das zusammengeführte Material, das wohl vornehmlich aus römischen Zentralarchiven, von syrischen und Beiruter Adressen und aus sonstigen Provinzen[16] stammte, blieb nicht erhalten, war allerdings im 534 geschaffenen Codex Iustinianus aufgegangen, Bestandteil des später so bezeichneten Corpus iuris civilis. Bereits im 4. und 5. Jahrhundert fanden Auszüge daraus Einlass in die anonymen Werke Mosaicarum et Romanarum legum collatio und Consultatio veteris cuiusdam iurisconsulti sowie in die Fragmenta Vaticana.[17] Eine Wiederaufnahme der Leitgedanken des Codex Gregorianus kann in der offiziellen Konstitutionensammlung des Kaisers Theodosius II. erblickt werden, der im 5. Jahrhundert den Codex Theodosianus (438) publizieren ließ, versehen mit mehr als 3000 Konstitutionen seit der Regierungszeit des Kaisers Konstantin.[10] Dieser Codex enthielt vornehmlich Verwaltungsrecht, weshalb er für die Forschung zu den spätantiken Verwaltungszuständen eine hervorragende Quelle darstellt.[18] Weiterhin ist publiziert,[19] dass der Text des Codex Gregorianus maßgebenden Einfluss auf den Inhalt der Sententiae Syriacae hatte.

Die Fragmenta Londiniensia Anteiustiniana, siebzehn Pergamentfragmente, wurden 2009–2010 als vermutliche Überreste des Codex Gregorianus identifiziert.[20][21]

Rechtshistorische Einbettung

Die beiden ersten nachchristlichen Jahrhunderte waren geprägt von Wirtschaftswachstum und Wohlstand für Rom. Über Diokletian zu Konstantin begann eine Epoche einschneidender Staatsreformen, die viel an zentraler Bürokratisierung mit sich brachten, was den Systemen gelegentlich das Etikett eines „Zwangsstaat“ einbrachte.[22] Der Entwicklung des römischen Privatrechts kam dies zugute. Der Prätor verwaltete die Rechtspflege, Urteile wurden hingegen vom privaten Richter (iudex) ausgesprochen. Staatliche Gesetzgebung spielte eine untergeordnete Bedeutung, vielmehr entwickelten Respondierjuristen das Privatrecht sachlich fort, was einen leistungsfähigen Juristenstand nach sich zog. Mit Beginn des 3. Jahrhunderts waren die wesentlichen juristischen Leistungen vollbracht, denn es gab den großen Ediktskommentaren und der kommentierenden Problemliteratur, den disputationes und quaestiones, kaum etwas hinzuzufügen.[23]

Die Aktivitäten der Reskriptskanzleien Diokletians und die Rechtssammlungen der Codizes Gregorianus und Hermogenianus gelten gemeinhin als Abschluss der klassischen Rechtskultur. Einem Ulpian, Paulus oder Modestin vergleichbare Juristen traten fortan nicht mehr in Erscheinung. Stattdessen setze eine sukzessive Vulgarisierung des römischen Rechtsdenkens ein. Gründe dafür lassen sich im überreichen Angebot an juristischer Literatur einerseits finden, andererseits destabilisierte sich das Reich politisch und wirtschaftlich zunehmend ab dem 3. Jahrhundert.[23] Das Streben nach Anschaulichkeit, Volksnähe und Effizienz in der Rechtsordnung führte zur Kassation überholter Gerichtsstrukturen wie des Formularprozesses, der durch die kaiserliche Gerichtsbarkeit abgelöst wurde. Die Beamten des Kognitionsverfahrens verfuhren nicht mehr nach Edikt, sondern auf verwaltungsrechtliche Weisung hin. Selbige entzog sich der wissenschaftlich-juristischen Einflussnahme. Bedeutende Rechtsgeschäfte wie die mancipatio oder in iure cessio wurden durch die Regeln der traditio abgelöst. Lehrmeinungen wurden auf wenige Autoritäten begrenzt. Außerdem wurden obsolete Rechtsschichten wie das Nebeneinander von ius civile, honorarium und gentium überwunden.[10][24]

Weiterverarbeitungen der im Codex enthaltenen Auszüge der Bücher 35 bis 38 der ulpianischen libri ad Sabinus – sie richteten sich an den Rechtsschulbegründer der Sabinianer und Prokulianer, Masurius Sabinus (1. Jahrhundert) – finden sich in den der Rechtsschule von Beirut zugeordneten Scholia Sinaitica.[25] Neben zweien aus dem Codex Hermogenianus, fanden dreiundzwanzig gregorianische Reskripte Einlass in die Lex Romana Visigothorum des tolosanischen Königs Alarich. Zehn der gregorianischen und beide hermogenianischen Reskripte wurden dabei mit interpretatioes versehen. Ursprünglich dienten sie der Erläuterung klassischer Rechtstexte, heute geben sie Aufschluss über Bedeutung und Inhalt des spätantiken römischen Rechts.[26]

Siehe auch

Ausgaben

  • Gustav Friedrich Hänel: Corpus iuris Romani anteiustiniani consilio professorum Bonnensium (sog. Bonner Corpus iuris). Band II S. 3 ff. (1837).
  • Paul Krüger: Collectio librorum iuris anteiustiniani. Band III S. 221 ff.

Literatur

  • Max Conrat (Cohn): Zur Kultur des Römischen Rechts im Westen des Römischen Reiches im vierten und fünften Jahrhundert nach Christi, Mélanges Fitting I, Montpellier 1907, S. 289–320.
  • Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n.Chr.), Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge, Band 8, Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 134–137.
  • Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts (= Beck’sche Reihe. 2132). Beck, München 2000, ISBN 3-406-44732-5, S. 106–110.
  • Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, (erschienen zuerst in englischer Übersetzung unter dem Titel: History of Roman legal science, 1946), Weimar, Boehlau, 1961, S. 208 f.
  • Paul Jörs: Codex Gregorianus. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band IV,1, Stuttgart 1900, Sp. 161–164.

Anmerkungen

  1. Aufgegriffen in Codex Theodosianus 1, 5, 5.
  2. Interlinearglosse zu Fragmenta Vaticana 266a, 272, 285 und 288.
  3. Consultatio 1, 6; 2, 6; 9, 14; 15.
  4. Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n.Chr.), Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge, Band 8, Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 30–34.
  5. Theodor Mommsen: Die Heimat des Gregorianus. In: SZ Band 22 (1901), S. 139 ff.; vgl. auch Paul Krüger: Geschichte der Quellen und Litteratur des Römischen Rechts. S. 278 ff.
  6. Kritisch zu Mommsen bereits Giovanni Rotondi: Bullettino dell’ Instituto di Diritto Romano „Vittorio Scialoja“. Band 26, S. 199 Fn. 4 (= Scritti Band 1, S. 136) und Fritz Schulz: History of Roman Legal Science. Oxford 1946 (deutsch: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft. Weimar 1961. S. 390 f.)
  7. Collatio, 1, 10; 6, 4; 15, 3.
  8. Sigmund Wilhelm Zimmern: Geschichte des römischen Privatrechts bis Justinian. Band 1: Geschichte der Quellen und ihrer Bearbeitung. Heidelberg 1826. S. 162 f.;
  9. Max Kaser: Das römische Zivilprozessrecht. Handbuch der Altertumswissenschaft. Abteilung 10: Rechtsgeschichte des Altertums. Band 3.4. München 1966. 2. Auflage 1996 bearbeitet von Karl Hackl. ISBN 3-406-40490-1., 434 A. 28 ff.
  10. a b c Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Aufl. 2001) (Böhlau-Studien-Bücher) ISBN 3-205-07171-9, S. 48.
  11. Collatio, 3, 4.
  12. a b c Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n.Chr.), Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge, Band 8, Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 134–137.
  13. Detlef Liebs: Hofjuristen der römischen Kaiser bis Justinian, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte Jahrgang 2010, Heft 2, C. H. Beck, München, S. 82 ff. (online).
  14. Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, (erschienen zuerst in englischer Übersetzung unter dem Titel: History of Roman legal science, 1946), Weimar, Boehlau, 1961, S. 208 f.
  15. Dieter Simon SZ 87 (1970), S. 368 ff., 377 (390); zustimmend weiterhin: Detlef Liebs, Edoardo Volterra und Dieter Nörr.
  16. Liebs zählt neben Italien etwa Niedermösien, Niederpannonien, Lykien, Kleinafrika (heute wohl Algerien) oder Gallia Narbonensis auf (S. 31/ nebst bereinigter Liste).
  17. Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 21 (S. 16 f.).
  18. Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts (= Beck’sche Reihe. 2132). Beck, München 2000, ISBN 3-406-44732-5, S. 108–110.
  19. Walter Selb: „Sententiae Syriacae“. Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – ÖAW, Band 567. Veröffentlichungen der Kommission für Antike Rechtsgeschichte, Band 7. Verlag der ÖAW. Wien 1990. ISBN 3-7001-1798-1. S. 189–192.
  20. Nicole Mai: Antiker römischer Gesetzestext wiederentdeckt. Spektrum der Wissenschaft, 27. Januar 2010, abgerufen am 23. August 2018.
  21. Simon Corcoran und Benet Salway: Fragmenta Londiniensia Anteiustiniana: Preliminary Observations. In: Roman Legal Tradition, 8 (2012), S. 63–83, ISSN 1943-6483.
  22. Markante Merkmale der „Zentralisierung“ waren: Einführung einer geheimen Staatspolizei unter Diokletian (agentes in rebus); Einführung der kaiserlichen Stellvertreter (praefecti praetorio) und Verwaltungseinrichtungen (Diözesen) sowie rechtliche Neugestaltung der Provinzen unter Konstantin; die wichtigsten kaiserlichen Hofämter ab Konstantin: das magister officiorum, das allen kaiserlichen Kanzleien (scrinia) vorstand, so beispielsweise der Libellkanzlei, der quaestor sacri palatii, der insbesondere für die Vorbereitung von Gesetzesmaßnahmen zuständig war, der comes sacrarum largitiorum, der für das reichsweite Finanzwesen zuständig war und der comes rerum privatarum, dem die kaiserliche Domänenverwaltung unterstand (Vgl. hierzu: Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht (Böhlau-Studien-Bücher). Böhlau, Wien 1981 (9. Auflage 2001), ISBN 3-205-07171-9, S. 14.).
  23. a b Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts (= Beck’sche Reihe. 2132). Beck, München 2000, ISBN 3-406-44732-5, S. 106–108.
  24. Fritz Sturm: Ius gentium. Imperialistische Schönfärberei römischer Juristen, in: Römische Jurisprudenz – Dogmatik, Überlieferung, Rezeption / Festschrift für Detlef Liebs zum 75. Geburtstag, hrsg. von Karlheinz Muscheler, Duncker & Humblot, Berlin (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 63), S. 663–669.
  25. Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage. UTB, Köln/Wien 2005, § 12 (Das Recht der römischen Spätzeit, Kapitel 4, Die Renaissance des klassischen Rechts), S. 196.
  26. Nicole Kreuter: Römisches Privatrecht im 5. Jh. n. Chr: Die Interpretatio zum westgotischen Gregorianus und Hermogenianus (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen), Duncker & Humblot, Berlin 1993, Einleitung.