Lew Sinowjewitsch Kopelew

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Lew Kopelew in den 1980er Jahren bei einer Lesung in Bad Münstereifel

Lew Sinowjewitsch Kopelew (russisch Лев Зиновьевич Копелев, wiss. Transliteration

Lev Zinov'evič Kopelev

; * 27. Märzjul. / 9. April 1912greg. in Borodjanka, Gebiet Kiew; † 18. Juni 1997 in Köln) war ein russischer Germanist, Schriftsteller und Humanist.

Leben

Jugend und Ausbildung

Lew Kopelew wurde 1912 in Borodjanka, Gebiet Kiew, als Sohn eines jüdischen Agronomen geboren. Schon früh wurde er mit der deutschen Sprache vertraut, die während seiner Kindheit oft in seiner Umgebung gesprochen wurde (die Familie hatte deutsche Kindermädchen, und die erste Liebe war die Tochter einer deutschen Familie).

Er arbeitete nach der Grundschule zuerst in einer Lokomotivfabrik und später als Lehrer an einer Schule für Erwachsene. In seiner Jugend war er begeisterter Kommunist, fiel aber aufgrund seiner Nähe zu trotzkistischem Gedankengut negativ auf. Um nicht als Abweichler Opfer der stalinistischen Säuberungen zu werden, bemühte er sich, seine kommunistische Treue durch einen gewissen Übereifer zu beweisen.

Als junger Mann nahm er im Rahmen des Holodomor an Expeditionen in ukrainische Dörfer teil, um den hungernden Bauern das letzte Saatgut und Futtergetreide abzupressen – was für diese Bauern faktisch einem Todesurteil durch Verhungern gleichkam. Seine Rolle als Mittäter im brutalen bolschewistischen Kampf um Vorherrschaft in dieser Periode hat er in seiner Autobiographie "Und schuf mir einen Götzen" kritisch dargestellt[1].

Er studierte von 1933 bis 1938 Germanistik, Geschichte und Philosophie. Nach seiner Promotion arbeitete er als Dozent.

Zweiter Weltkrieg

Im Jahre 1941 meldete er sich als Freiwilliger zur Armee, wo er wegen seiner guten Deutschkenntnisse zum „Instrukteur für Aufklärungsarbeit im Feindesheer“ wurde. Später wurde er in einer Propagandaabteilung eingesetzt und arbeitete dort mit Angehörigen des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) zusammen, um Soldaten der deutschen Wehrmacht zum Überlaufen auf die sowjetische Seite zu bewegen. Er nahm an verschiedenen Schlachten des Krieges teil, unter anderem an der Schlacht um Moskau oder der sowjetischen Sommeroffensive 1944 mit dem Namen Operation Bagration.[2] Während des Einmarsches der Roten Armee in Deutschland im Januar 1945 wurde er Zeuge zahlreicher Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung Ostpreußens, die ihn zutiefst erschütterten und ein starkes Gefühl der Scham in ihm auslösten. Mit seinen Versuchen, die unfaire Behandlung von NKFD-Angehörigen sowie weitere Gräueltaten zu verhindern, erntete er nur Unverständnis und Feindseligkeit bei seinen Kameraden und Vorgesetzten und wurde deshalb bei dem sowjetischen Militärnachrichtendienst SMERSCH angezeigt. Wegen „Propagierung des bürgerlichen Humanismus, Mitleid mit dem Feind und Untergrabung der politisch-moralischen Haltung der Truppe“ wurde er zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Es gelang ihm zunächst, die Vorwürfe gegen sich zu entkräften, sodass er nach der Untersuchungshaft noch einmal für wenige Monate in Freiheit lebte. Nach Ablauf dieser Frist wurde er erneut verhaftet und ein weiteres Mal zu Lagerhaft verurteilt. Dieses Mal wurde er tatsächlich in ein Arbeitslager des GULag geschickt.

Gefangenenlager

Im Gefangenenlager lernte Kopelew unter anderem Alexander Solschenizyn kennen, der ihn in seinem Buch Der erste Kreis der Hölle als Lew Rubin auftreten lässt. Die schreckliche Erfahrung des Straflagers erschütterte seine kommunistischen Ideale jedoch nicht so sehr, dass er sich vom Kommunismus grundsätzlich abgewandt hätte. Im Jahre 1954, ein Jahr nach Stalins Tod, kam er schließlich frei.

Werdegang eines Dissidenten

Nach seiner Freilassung begann er wieder zu schreiben. Bald lernte er seine zweite Frau Raissa Orlowa kennen; im Jahre 1956 heirateten sie. Lew Kopelew wurde rehabilitiert und konnte als Literaturwissenschaftler und Germanist arbeiten und veröffentlichen. Kopelew bekam eine Stelle als Dozent für internationale Pressegeschichte. Er arbeitete von 1961 bis 1968 am Moskauer Institut für Kunstgeschichte, verfasste eine Bertolt-Brecht-Biografie und eine Geschichte der deutschsprachigen Theaterwissenschaft.

Seit Mitte der sechziger Jahre setzte er sich zunehmend für Andersdenkende wie Andrei Sacharow und Alexander Solschenizyn sowie für den Prager Frühling ein. Hierdurch geriet er in immer stärkere Opposition zu dem sich wieder verhärtenden Regime. Er verlor den Glauben an den Kommunismus und wurde, als er gegen den Einmarsch anderer kommunistischer Länder in die Tschechoslowakei und die brutale Zerschlagung aller Reformerfolge protestierte, mit Parteiausschluss, Schreibverbot und dem Verlust seiner Stelle am Institut für Kunstgeschichte bestraft. Damit endeten für ihn die letzten Hoffnungen, die er in den Kommunismus gesetzt hatte.

Prominenter Dissident

Die Wohnung des Ehepaars Kopelew-Orlowa in Moskau entwickelte sich schnell zu einem Anlaufpunkt von Dissidenten und Auslands-Korrespondenten, unter ihnen Fritz Pleitgen und Klaus Bednarz. In dieser Zeit intensivierte sich sein Austausch mit Heinrich Böll, dem er schon in den 1960er Jahren begegnet war und mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. Das enge Verhältnis zu Böll sollte später sein Leben noch entscheidend prägen.

Exil

Kopelew war zwar daran interessiert, ins Ausland zu reisen, aber er fürchtete die Gefahr der Ausbürgerung und wollte nicht ins Exil gehen. Eine Einladung von Böll und Marion Gräfin Dönhoff zu einer Studienreise nach Deutschland erfolgte 1980. Nachdem Kopelew sich zu Anfang dieses Jahres mit anderen Intellektuellen für Andrei Sacharow eingesetzt hatte, wurde ihm und seiner Frau überraschend im Oktober die Genehmigung zur Ausreise erteilt. Mitte November traf das Ehepaar in Köln ein. Der Genehmigung war ein langes diplomatisches Ringen um eine Rückkehr-Garantie vorausgegangen.

Anfang 1981 wurde das Ehepaar jedoch ausgebürgert. Nach einer Reise in die USA ließen sich Kopelew und seine Frau Raissa Orlowa in Köln nieder, Kopelew wurde kurz danach deutscher Staatsbürger.[3][4] Über die Schwierigkeiten, sich in Deutschland einzugewöhnen, berichtete Orlowa in einem Buch.

Humanist und Weltbürger

In Deutschland setzte sich Kopelew nachdrücklich für eine Aussöhnung zwischen Russen und Deutschen ein und arbeitete in einem wissenschaftlichen Projekt über das Deutschlandbild der Russen und das Russlandbild der Deutschen, um durch gegenseitiges Verstehen die alten Verbindungen zwischen beiden Völkern freizulegen und neue zu schaffen und zugleich die durch Propaganda und ideologische Auseinandersetzungen geschaffenen Feindbilder abzubauen.

In dieser Zeit wirkte er intensiv als Autor, Referent, Interview- und Gesprächspartner, machte auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam und intervenierte, wo es galt, für Völkerverständigung und gegenseitigen Respekt zu werben.

Nach der Verhängung des Kriegsrechts über Polen am 13. Dezember 1981 wurde seine Kölner Wohnung zum Anlaufpunkt für Menschenrechtler aus Polen. Kopelew sprach sehr gut Polnisch, er las regelmäßig die in Paris erscheinende Exilzeitschrift Kultura. Nach der politischen Wende von 1989/90 nahm er an Konferenzen des KARTA-Zentrums in Warschau teil, das sich, ähnlich wie die Moskauer Gruppe Memorial, der Aufarbeitung der von der kommunistischen Zensur verschwiegenen oder entstellten Geschichte verschrieben hatte.[5]

Kopelew initiierte ein Forschungsprojekt zur Geschichte der gegenseitigen deutsch-russischen Wahrnehmung von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert an der Bergischen Universität Wuppertal. Die Ergebnisse sind in insgesamt zehn Bänden unter dem Titel „West-Östliche Spiegelungen“ dokumentiert.

Noch einmal Moskau

Aufgrund der Perestroika Gorbatschows erhielt Kopelew 1989 die Erlaubnis, seine Heimatstadt Moskau anlässlich seines 77. Geburtstags zu besuchen. 1990 konnte er Russland ein zweites Mal besuchen. Er reiste durch das Land und traf Freunde, doch das Land war ihm inzwischen fremd geworden. Da seine Frau Raissa 1989 gestorben war, ging er schließlich wieder nach Köln zurück, um dort seine Arbeit zur Versöhnung der Völker fortzusetzen.

Am 18. Juni 1997 starb Lew Kopelew in Köln. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Korn (1953–2019), Lew Kopelews engster Mitarbeiter und Vertrauter, überführte seine Urne nach Moskau, wo Kopelew unter großer Anteilnahme seiner russischen Freunde und Kollegen sowie der Deutschen Botschaft auf dem Donskoi-Friedhof neben seiner Frau Raissa Orlowa beigesetzt wurde.

Nachwirken

Der Lew-Kopelew-Weg in Köln

Ihm zu Gedenken wurde 1998 von seinen Freunden, dem WDR und der Kreissparkasse Köln in den Räumen der Kreissparkasse am Neumarkt das Lew Kopelew-Forum gegründet, das über sein Leben und Werk informiert und ein Veranstaltungs- und Ausstellungsprogramm zur deutsch-russischen Verständigung anbietet. Gefördert wird das Forum vom Land Nordrhein-Westfalen. Seit 2001 wird vom Forum der undotierte Lew-Kopelew-Preis vergeben.

Am 26. Januar 2009 wurde an der Neuenhöfer Allee in Köln direkt neben dem Haus, in dem die Kopelews seit 1984 wohnten, der Lew-Kopelew-Weg eingeweiht. Der Weg führt in den Beethoven-Park.

Der persönliche Nachlass des Ehepaars Kopelew/Orlowa ist gesplittet. Archivmaterialien aus der Zeit vor ihrer Emigration aus der Sowjetunion befinden sich im Staatlichen Russischen Literaturarchiv.[6] Ihr privates Archiv  aus der Zeit nach ihrer Emigration nach Deutschland wird im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen aufbewahrt.

Werke

  • Brecht (1966), (Брехт)
  • Zwei Epochen deutsch-russischer Literaturbeziehungen (1971)
  • Verwandt und verfremdet. Essays zur Literatur der Bundesrepublik und der DDR (1976)
  • Verbietet die Verbote! In Moskau auf der Suche nach Wahrheit. Vorwort Max Frisch (1977)
  • Aufbewahren für alle Zeit! Nachwort von Heinrich Böll (Autobiographie Teil 2) (1976), Хранить вечно
  • Und schuf mir einen Götzen (Autobiographie Teil 1) (1979), И сотворил себе кумира.
  • Tröste meine Trauer (Autobiographie Teil 3) (1981), Утоли моя печали
  • Ein Dichter kam vom Rhein. Heinrich Heines Leben und Leiden (1981)
  • Kinder und Stiefkinder der Revolution. Unersonnene Geschichten (1983)
  • Der Heilige Doktor Fjodor Petrowitsch – Die Geschichte des Friedrich Joseph Haass (1984)
  • Im Willen zur Wahrheit. Analysen und Einsprüche. Vorwort von Gerd Ruge (1984)
  • Worte werden Brücken. Aufsätze, Vorträge Gespräche 1980–1985. Mit einem Beitrag von Marion Gräfin Dönhoff (1985)
  • Der Wind weht, wo er will. Gedanken über Dichter. Mit einem Nachwort von Werner Keller (1988)
  • Und dennoch hoffen. Texte der deutschen Jahre (1991)
  • Waffe Wort (1991)
  • Laudationes (1993)
  • Russland, eine schwierige Heimat (1995)

Gemeinsam mit seiner Frau Raissa Orlowa publizierte er:

  • Boris Pasternak. „Bild der Welt im Wort“ (1986)
  • Wir lebten in Moskau (1987), Мы жили в Москве (1)
  • Zeitgenossen, Meister, Freunde. Mit einem Vorwort von Klaus Bednarz (1989), Мы жили в Москве (2)
  • Wir lebten in Köln. Aufzeichnungen und Erinnerungen (1996), Мы жили в Кёльне (2003)

Gemeinsame Publikationen mit Heinrich Böll:

  • Warum haben wir aufeinander geschossen? (1981)
  • Antikommunismus in Ost und West. Zwei Gespräche (1982)
  • Heinrich Böll – Lew Kopelew. Briefwechsel. Mit einem Essay von Karl Schlögel. Hrsg. von Elsbeth Zylla (2011)

(Initiator und Herausgeber:) West-Östliche Spiegelungen, zehn Bände, Wilhelm Fink Verlag, 1985 bis 2006. Reihe A, hrsg. von Lew Kopelew und Mechthild Keller:

  • Bd. A1: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert (1985)
  • Bd. A2: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung (1987)
  • Bd. A3: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19. Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zur Reichsgründung (1991)
  • Bd. A4: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg (1999)
  • Bd. A5: Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924 (hrsg. von Lew Kopelew und Gerd Koenen) (1998)

Reihe B, hrsg. von Lew Kopelew und Dagmar Herrmann

  • Bd. B1: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 11.–17. Jahrhundert (1988)
  • Bd. B2: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung (1992)
  • Bd. B3: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19. Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zu den Reformen Alexanders II. (1998)
  • Bd. B4: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg (2006)
  • Sonderband B: Deutsche und Deutschland in der russischen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts (1988)

Deutsch-russische Begegnungen im Zeitalter der Aufklärung (18. Jahrhundert). Wanderausstellung durch Deutschland und Rußland. Dokumentation. Hrsg. von Lew Kopelew, Karl-Heinz Korn, Rainer Sprung (1997)

Auszeichnungen

Ausstellungen

  • 2012: „Worte werden Brücken“. Lew Kopelew 100. Geburtstag (eine Ausstellung des Heinrich-Böll-Archivs in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, und dem Lew-Kopelew-Forum, Köln), Zentralbibliothek Köln (Literaturwelt)[9]

Literatur

  • Reinhard Meier, mit einem Vorwort von Fritz Pleitgen: Lew Kopelew, Humanist und Weltbürger, Theiss, Darmstadt 2017, ISBN 978-3-8062-3501-2.[10]

Weblinks

Commons: Lew Kopelew – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Lew Sinowjewitsch Kopelew: Und schuf mir einen Götzen. 1. Auflage. Hoffmann und Campe, Hamburg 1979.
  2. Lew Kopelew; Aufbewahren für alle Zeit; Steidl-Verlag Göttingen 1996; ISBN 3-88243-378-7
  3. Lew Kopelew. (Memento vom 11. November 2016 im Internet Archive) In: Der Spiegel vom 17. Dezember 1997
  4. Lew Kopelew – ein deutscher Russe. In: russland.news vom 12. März 2016
  5. Gazeta Wyborcza, 8. April 2002, S. 20.
  6. RGALI Bestand 2548 [Orlowa] und 2549 [Kopelew]
  7. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – 1981 Lew Kopelew. (Memento vom 18. Juni 2013 im Internet Archive) PDF
  8. Preisträger 1991 (Memento vom 26. September 2007 im Internet Archive)
  9. „Worte werden Brücken“. Ausstellung zu Lew Kopelews 100. Geburtstag in der Zentralbibliothek. (Memento vom 8. April 2012 im Internet Archive) Stadt Köln, 5. April 2012
  10. Rezension von Gemma Pörzgen im Deutschlandfunk Andruck - Das Magazin für Politische Literatur vom 12. Juni 2017, abgerufen am 18. Juni 2017