Mykenisches Griechisch

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Übersicht: Griechische Sprache
(siehe auch: Griechisches Alphabet)
Urgriechisch (ca. 2000 v. Chr.)
Mykenisch (ca. 1600–1100 v. Chr.)
Altgriechisch (ca. 800–300 v. Chr.)
Dialekte:
Äolisch, Arkadisch-Kyprisch,
Attisch, Dorisch, Ionisch
Koine (ca. 300 v. Chr. – 300 n. Chr.)
Variante: Neutestamentliches Griechisch
Spätantikes Griechisch (ca. 300–600)
Mittelgriechisch (ca. 600–1500)
Neugriechisch (seit ca. 1500)
Heutige Amtssprache
Volkssprache: Dimotiki
Bildungssprache: Katharevousa
Dialekte:
Griko, Jevanisch, Kappadokisch,
Pontisch, Tsakonisch, Zypriotisch
mykenische Tontafel

Mykenisches Griechisch ist die älteste dokumentierte Form der griechischen Sprache. Sie wurde während der mykenischen Ära, d. h. zwischen dem 16. und 11. Jahrhundert v. Chr. auf dem griechischen Festland und – nach dessen Eroberung im 15. Jahrhundert v. Chr. – auf Kreta gesprochen. Überliefert ist sie durch Inschriften in der Silbenschrift Linear B, hauptsächlich auf Tontafeln aus den Palastarchiven von Knossos, Pylos (s. Palast des Nestor) und anderen mykenischen Palastzentren.

Die Linearschrift B

Das mykenische Griechisch ist erst seit 1952 bekannt. Die Linear-B-Tafeln wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt, konnten aber lange nicht gelesen werden, und es war nicht bekannt, in welcher Sprache die Texte verfasst waren. Neben zahlreichen Spekulationen ging man, da die meisten Tafeln auf Kreta gefunden wurden, davon aus, dass es sich um die vermutlich vorindogermanische Sprache der Minoer handelte. Erst als Michael Ventris und John Chadwick die Linearschrift B entzifferten, zeigte sich, dass es sich um eine frühe Form des Griechischen handelte.

Die Kenntnis des mykenischen Griechisch ist aufgrund des Charakters der überlieferten Texte beschränkt. Bei den Tontäfelchen handelt es sich hauptsächlich um Inventarlisten und andere Notizen zu wirtschaftlichen und Verwaltungszwecken. Literarische oder sonstige Prosatexte sind nicht überliefert.

Das Textkorpus

Das mykenische Textkorpus ist überwiegend auf Tontafeln (auch Tonetiketten und Tonklümpchen) überliefert (ca. 5730); die übrigen Inschriften sind auf Tonvasenscherben (ca. 170), auf Elfenbein (1) und auf Kieselstein (1). Es ist an sechzehn verschiedenen Örtlichkeiten Griechenlands gefunden worden:

  1. auf der Insel Kreta in Knossos, Mallia, Armeni, Chania und Mamelouko
  2. auf der Peloponnes in Pylos, Mykene, Tiryns, Midea, Agios Vasilios[1] (südlich von Sparta) und Olympia
  3. in Mittelgriechenland in Eleusis, Theben, Orchomenos, Gla, Kreusis, Medeon und Dimini

Die bedeutendsten Fundorte sind:

  1. Knossos KN, ca. 4360 Tafeln (myk. ko-no-so (
    𐀒𐀜𐀰
    ) Knōsos)
  2. Pylos PY, 1087 Tafeln (myk. pu-ro (
    𐀢𐀫
    ) Pulos)
  3. Theben TH, 337 Tafeln (myk. te-qa (
    𐀳𐀣
    ) Thēgwai)
  4. Mykene MY, 73 Tafeln
  5. Agios Vasilios in Lakonien, bisher über 40 Tafeln[2]
  6. Tiryns TI, 27 Tafeln
  7. Chania KH, 4 Tafeln (myk. ku-do-ni-ja (
    𐀓𐀈𐀛𐀊
    ) Kudōnia)

Bei den Tontafeln werden nach der Form zwei Arten unterschieden:

  1. Kleinere Täfelchen, die nach ihrer Form 'Palmblatttafel' genannt werden,
  2. Größere, rechteckige Täfelchen, die nach ihrer Form 'Seitentafel' genannt werden.

Die Orthographie und Phonologie

Die Linearschrift B ist eine Silbenschrift mit knapp über 90 Silbenzeichen und ca. 150 Logogrammen bzw. Piktogrammen (Einzelzeichen mit Wortbedeutung). Von 73 Silbenzeichen steht der Lautwert fest, von einigen weiteren ist er mehr oder weniger allgemein akzeptiert, von einigen jedoch unbekannt. Die Linearschrift B stammt von der noch nicht entzifferten Linearschrift A ab, die für die nicht verwandte minoische Sprache verwendet wurde. Der griechische Lautstand lässt sich mit dieser Schrift nur ungenau wiedergeben, da die Zeichen entweder bloße Vokale oder Silben mit dem Lautwert Konsonant + Vokal repräsentieren. Nur in einigen wenigen Fällen kommt der Lautwert Konsonant + Konsonant + Vokal vor. Konsonantenhäufungen können daher in der Regel schlecht, Konsonanten im Silbenauslaut gar nicht wiedergegeben werden: Das Wort für „Stall“, *stathmos, wurde ta-to-mo (

𐀲𐀵𐀗

) geschrieben. Außerdem wird weder zwischen r und l noch zwischen stimmhaften (z. B. b), stimmlosen (z. B. p) und aspirierten (z. B. ph) Verschlusslauten unterschieden. Die Ungenauigkeit der Schrift erschwert die Lesung der mykenischen Texte. Beispielsweise kann das Wort pa-te (

𐀞𐀳

) entweder für *pantes („alle“) oder *patēr („Vater“) stehen.

Von den späterenen griechischen Dialekten unterscheidet sich das Mykenische in phonologischer Hinsicht:

  1. Urgriech. *ā ist erhalten geblieben (myk. da-mo /dāmos/ 'Gemeinde': gr. δῆμος (dor. δᾶμος) 'Volk, Gemeinde'; myk. a-ta-na /Atānā/ 'Athene': gr. Ἀθήνη)
  2. Vokalkontraktionen sind noch nicht eingetreten (myk. do-e-ro /do(h)elos/ 'Diener': gr. δοῦλος)
  3. Urgriech. *u̯ ist erhalten geblieben (myk. wa-na-ka /wanaks/ 'Herr(scher)': gr. ἄναξ; myk. ko-wo /korwos/ 'Jüngling': gr. att. κόρος, ion. κούρος)
  4. Die urgriech. Labiovelare sind in der Regel erhalten geblieben (-qe /-ku̯e/ 'und': gr. τε; myk. (nom.pl.) a-pi-qo-ro /ampiku̯oloi/ 'Dienerin': gr. ἀμφιπολος)

Das mykenische und das klassische Griechisch im Vergleich

Das mykenische Griechisch ist wesentlich altertümlicher als das klassische Griechisch und steht der indogermanischen Ursprache näher:

  • Die Labiovelare sind noch erhalten und werden in der Linear-B-Schrift mit dem Zeichen für q wiedergegeben
    • Beispiel: mykenisch qa-si-re-u (
      𐀣𐀯𐀩𐀃
      ), qo-u (
      𐀦𐀄
      ), qe (
      𐀤
      ) gegenüber altgriechisch
      βασιλεύς
      basileus
      („König“),
      βοῦς
      bous („Rind“),
      τε
      te („und“)
  • Der w-Laut (Digamma) ist noch erhalten. Im Altgriechischen ist er in den meisten Dialekten geschwunden.
    • Beispiel: mykenisch we-ko (
      𐀸𐀒
      ), e-ra-wa (
      𐀁𐀨𐀷
      ) gegenüber altgriechisch
      ἔργον
      ergon („Werk“),
      ἐλαία
      („Olive“)

Die Sprache Homers steht dem mykenischen Griechisch in mancher Hinsicht näher.

  • Formenlehre: Der Genitiv der o-Deklination endet auf -o-jo bzw. -οιο
  • Wortschatz: Mykenisch wa-na-ka (
    𐀷𐀙𐀏
    ), bei Homer
    ἄναξ
    anax („Fürst“)

Seit der Dorischen Wanderung wurde in den meisten früher mykenischen Gebieten der dorische Dialekt gesprochen. Nur in Arkadien und auf Zypern hielt sich der arkadisch-kyprische Dialekt, der dem mykenischen Griechisch nahesteht.

Literatur

Wörterbuch

Studien

  • Antonín Bartoněk: Handbuch des mykenischen Griechisch. C. Winter, Heidelberg 2003, ISBN 3-8253-1435-9, (Indogermanische Bibliothek Reihe 1).
  • Antonín Bartoněk: Die Erforschung des Verhältnisses des mykenischen Griechisch zur homerischen Sprachform. In: Joachim Latacz (Hrsg.): Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Rückblick und Ausblick. Teubner, Stuttgart u. a. 1991, ISBN 3-519-07412-5, (Colloquium Rauricum, 2), (Vorträge zweiten Colloquium Rauricum, 16. bis 19. August 1989 in Augst), Text books.google.com.
  • Lydia Baumbach: The Mycenaean Greek Vocabulary II. In: Glotta, 49, 1971, ISSN 0017-1298, S. 151–190.
  • John Chadwick, Lydia Baumbach: The Mycenaean Greek Vocabulary. In: Glotta, 41, 1963, ISSN 0017-1298, S. 157–271.
  • Sigrid Deger-Jalkotzy (Hrsg.): Die neuen Linear-B-Texte aus Theben. Ihr Aufschlusswert für die mykenische Sprache und Kultur. Akten des internationalen Forschungskolloquiums an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 5. – 6. Dezember 2002. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2006, ISBN 3-7001-3640-4, (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Denkschriften, Philosophisch-Historische Klasse 338, ISSN 0029-8824), (Veröffentlichungen der Mykenischen Kommission 23), (Mykenische Studien 19), Inhalt.
  • Stefan Hiller, Oswald Panagl: Die frühgriechischen Texte aus mykenischer Zeit. 2. Durchgesehene Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1986, ISBN 3-534-06820-3, (Erträge der Forschung 49, ISSN 0174-0695).
  • James Thomas Hooker: Linear B. An Introduction. Reprinted. Bristol Classical Press u. a., Bristol 2001, ISBN 0-906515-62-9.
  • Leonard Robert Palmer: The Interpretation of Mycenaean Greek Texts. Oxford University Press, Oxford 1963 (Oxford University Press academic monograph reprints), ISBN 0198131445. – Rez. von: John Chadwick, in: Gnomon 36, 1964, 321–327, (online).
  • Cornelis Jord Ruijgh: Études sur la grammaire et le vocabulaire du grec mycénien. Hakkert, Amsterdam 1967.

Texteditionen

  • Robert Browning (Hrsg.): The Linear B Texts from Knossos. Transliterated and edited. London 1955 (Bulletin of the Institute of Classical Studies of the University of London, Supplementary Papers, Nr. 1).
  • Emmett Leslie Bennett: The Pylos Tablets. A Preliminary Transcription. Princeton UP, Princeton 1951.
    • Emmett Leslie Bennett: The Pylos Tablets. Texts of the inscriptions found 1939–1954. Princeton UP, Princeton 1956. – Rez. von: Leonard Robert Palmer, in: Gnomon 29, 1957, 113–117.
    • Emmett Leslie Bennett, Jean Pierre Olivier: The Pylos Tablets Transcribed. Vol. 1: Text and notes; vol. 2: Hands, concordances, indices. Ed. dell’Ateneo, Roma vol. 1: 1973, vol. 2: 1976.
  • Emmett Leslie Bennett: The Mycenae Tablets. With an Introduction by Alan B. Wace. In: Proceedings of the American Philological Society 97.4, 1953, 422–470, (online).
    • Emmett Leslie Bennett: The Mycenae Tablets II. With an Introduction by Alan B. Wace and Elizabeth B. Wace. Translations and Commentary by John Chadwick. In: Transactions of the American Philological Society 48.1, 1958. – Rez. von: Leonard Robert Palmer, in: Gnomon 31, 1959, 429–433.
  • Emmett Leslie Bennett, John Chadwick, Michael Ventris: The Knossos Tablets. A revised transliteration of all the texts in Mycenaean Greek recoverable from Evans’ excavations of 1900–1904 based on independent examination. London 1956 (Bulletin of the Institute of Classical Studies, Supplementary Papers, 2) – Rez. von: Leonard Robert Palmer. In: Gnomon 29, 1957, S. 113–117.
    • Emmett Leslie Bennett, John Chadwick, Michael Ventris: The Knossos Tablets. A revised transliteration of all the texts in Mycenaean Greek recoverable from Evans’ excavations of 1900–1904 based on independent examination. Second edition with corrections and additions by John Chadwick with the assistance of Fred W. Householder Jr. London 1959 (Bulletin of the Institute of Classical Studies, Supplement no. 7) – Rez. von: Joshua Whatmough. In: Classical Philology, 57, 1962, S. 244–246.
  • Michael Ventris: Documents in Mycenaean Greek. Second edition by John Chadwick. Cambridge University Press, London 1973, ISBN 0-521-08558-6.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. V. Aravantinos, A. Vasilogamvrou: The first Linear B documents from Ayios Vasileios (Laconia). In: P. Carlier et al.: Études Mycéniennes 2010. Biblioteca di «Pasiphae» X, Pisa/Rom 2012, ISBN 978-88-6227-473-9; S. 41–54.
  2. Website zum Fundort des Archäologischen Instituts der Universität Groningen