Anti-Antifa
Als Anti-Antifa bezeichnen deutschsprachige Rechtsextremisten, Neurechte, Rechtspopulisten bis hin zu manchen Rechtskonservativen eine gezielte, kampagnenartige Bekämpfung politischer Gegner, die sie der Antifa bzw. dem Antifaschismus zuordnen. Dabei geht es um das Ausforschen und Veröffentlichen privater Daten zum Zweck der Einschüchterung und Bedrohung. Diese Aktivitäten sind eingebettet in ideologische Vorstöße, die eine Diskurshoheit im öffentlichen Raum für rechtsgerichtete politische Ziele anstreben.
In Deutschland begannen der Neonazi Christian Worch und seine Mitstreiter 1992 die erste so genannte Anti-Antifa-Kampagne. Laut Anton Maegerle und Martin Dietzsch (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung – DISS) umfassen Anti-Antifa-Aktionen neben konkreten Gewalttaten von Neonazis auch journalistische und wissenschaftliche Aktivitäten intellektueller Rechter.[1]
Entstehung
Im August 1972 erschien im rechtsextremen Theorieorgan Nation Europa der Artikel Plädoyer für einen Anti-Antifaschismus. Darin denunzierte ein Hans Georg von Schirp den Antifaschismus als „genialen Trick zur Entmündigung der Menschheit“ und behauptete:
„Von den peitschenschwingenden Antifaschisten, den Sklaventreibern der Neuzeit, werden wir mit Hü und Hott in die Sackgasse, wenn nicht gar in den Hameler Berg getrieben. Der politische Sektor 'Mitte bis rechts' kann also nur wieder sein ihm zukommendes Gewicht zurückgewinnen, wenn er sich ideologisch frei macht und mit den erforderlichen Mitteln zur Wehr setzt. Dazu gehört neben der Immunität gegen den Faschismus-Bann ein eindeutiges und aggressives Vokabular.“[2]
Der 1974 gegründete „Studentenbund Schlesien“ (SBS) veranstaltete regelmäßige regionale Propagandatreffen, darunter die „Göttinger Runde“. Wie 1982 bekannt wurde, legte der NPD-Funktionär Hans-Michael Fiedler dort Listen über antifaschistische Journalisten an und rief zur organisierten Informationsbeschaffung über sie auf, um ihre Namen und Tätigkeiten aufzudecken.[3] Aus der „Schwarzen Liste“ der „Göttinger Runde“ entstand die regelmäßige „Anti-Antifa“-Rubrik in den „Nachrichten des Studentenbundes Schlesien“ (später „SBS-Nachrichten“), die Daten und Fotografien von Antifaschisten abdruckte. Ihr Herausgeber Hans-Michael Fiedler benannte die Rubrik 1994 in „Demokratischer Dialog“ um und schrieb dazu: „Wir waren die ersten, die mit Sachkenntnis und Überlegung darangingen, die Rufmord- und Nachredezentralen der Linken sowie ihre Einstieg- und Verleumdungsspezialisten zu benennen, zu kennzeichnen und öffentlich zu machen. Der bisherige Erfolg ist auch an den gereizten und panischen Reaktionen der Betroffenen zu ersehen.“ Er bezeichnete sie als „ekles Gewürm“ und legte seinen Lesern damit entsprechende Gewalt an den namhaft gemachten Gegnern nahe.[4]
Ab 1992 machten Rechtsextreme in den USA, Großbritannien, Deutschland und Österreich die Bekämpfung von Antifaschisten zu einem wesentlichen Aktionsschwerpunkt. Im Februar 1992 veröffentlichte Louis Beam seinen einflussreichen Artikel Leaderless Resistance im Internet und stellte ihn im Oktober einem breiten Spektrum rechtsgerichteter Gruppen der USA vor. Sein Konzept prägte unter anderen die britische Gruppe Combat 18 (der Zahlencode 18 steht für AH: „Kampftruppe Adolf Hitler“). Ihr Blatt “Redwatch” veröffentlichte nach dem Vorbild des antisemitischen Hetzblatts Jew Watch aus Texas Adressen und Telefonnummern politischer Gegner sowie kaum verhüllte Gewaltaufrufe, denen reihenweise Angriffe und Einschüchterungsversuche folgten.[5]
Horst Rosenkranz, Redner beim rechtsextremen Rudolf-Heß-Gedenkmarsch, brachte die Methode von Redwatch im Sommer 1992 nach Österreich. In seiner Zeitschrift „Fakten“ zählte er linke Initiativen, deren Postfächer und Impressen auf und rief dazu auf, ihm entsprechende Informationen zuzusenden. Die Zeitschrift „Die Aula“ druckte seinen Artikel nach und ergänzte ihn. Die rechtsextreme „Liste kritischer Studenten“ rief ihre Leser auf, selbst Adressen und Informationen über „Inländerfeinde und Vermischungsrassisten“ zu sammeln. Im März 1993 folgte die „Aktionsgemeinschaft für demokratische Politik“ mit einem Aufruf in ihren „Kommentaren zum Zeitgeschehen“: „Senden Sie uns Anschriften von Bonzen, Parasiten und Gesinnungsterroristen, die sollen sehen, daß es Widerstand gibt!“ Solche Aufrufe zum „Widerstand“ gegen Antifaschisten folgten in mehreren Staaten Europas.[6]
1992 übernahmen auch deutsche Neonazis die Kampagne und ihre Methodik. Die Zeitschrift „Nation Europa“ rief zum „Enttarnen“ von „Inländerfeinden“ auf. Die „Nationale Liste“ (NL) um den Hamburger Neonazi Christian Worch gab damals in ihrer Zeitschrift „Index“ ein Themenheft „Anti-Antifa“ sowie 1993 die Broschüre „Der Einblick“ heraus. Diese beschrieb unmissverständlich die Ziele, anzugreifenden Gruppen und Methoden der „Anti-Antifa“-Arbeit und listete „Volksfeinde“ mit Namen und teils Adressen auf.[5] Die Initiatoren wollten den „Volkszorn“ gegen Asylbewerber und Ausländer, der sich im August 1992 bei den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen gezeigt hatte, gezielt auf den „Inländerfeind“ (linksgerichtete Gegner) umlenken und machten damit allen Varianten der rechten Szene ein Identifikationsangebot.[7] Sie wollten neben der „Feindbekämpfung“ auch das eigene zersplitterte „nationale Lager“ einigen, indem sie eine Notwehrlage gegen staatliche Organisationsverbote beschworen und militante Antifaschisten als „Steigbügelhalter der BRD-Justiz“ darstellten.[8]
Die deutsche Anti-Antifa-Kampagne stand im direkten Kontext einer massiven öffentlichen Präsenz des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1990 bis 1993. Diese zeigte sich in alltäglicher Straßengewalt, zahlreichen Pogromen gegen Flüchtlinge und Ausländer, dem Anwachsen einer Skinhead-Szene in Ostdeutschland und zunehmenden Aufmärschen und anderen Aktivitäten von Neonazis.[9] Die Kampagne setzte ihren traditionellen Antikommunismus fort, dessen Relevanz nach dem Ende der DDR stark abnahm, und übertrug ihn auf alle Kritiker, die sie unabhängig von ihrer tatsächlichen Einstellung als „Kommunisten“ („Rote“) ansahen und so ihre „Konfrontationsgewalt“ gegen sie legitimierten.[10] Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks verlagerten Rechtsextreme ihr traditionelles äußeres Feindbild des Kommunismus auf Teile der Gesellschaft, wo sie diesen fortleben sahen, und suchten verstärkt nach dem Kommunismus „artverwandten“ Gruppen im eigenen Land. So machten sie den Antifaschismus, der eigentlich den Gründungskonsens der Bundesrepublik bezeichnet, zum neuen Feindbild.[11]
Ziele
Ziel der Kampagne ist die Verunsicherung von direkten politischen Kontrahenten, um Spielräume für die eigene rechtsextreme Politik zu schaffen. Wesentlicher Bestandteil ist die ideologische Delegitimierung des Antifaschismus als Gründungskonsens der Bundesrepublik. Die intellektuelle Neue Rechte widmet sich daher vorrangig der Bekämpfung einer „linken Antifa“, setzt dabei in ihren Medien wie Criticón Antifaschismus mit „Antigermanismus“ gleich und deutet diesen durch die historische Niederlage des Sowjetkommunismus als widerlegt. Dabei wird diese Sicht seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 von einem breiten Bündnis konservativer Publizisten, Politikwissenschaftler, Staats- und Verfassungsschützer unterstützt. Diese sprechen wie bei der untergegangenen DDR auch bezüglich der Bundesrepublik oft von einem ideologisch aufgezwungenen „verordneten Antifaschismus“.[12]
„Der Einblick“ schrieb 1992: Die Linke sei schwach, halte aber das rechte Milieu durch Denunziationen nieder. Mit „Anti-Antifa“ solle nun zurückgeschlagen werden. Der Name sei mit dem doppelten „anti“ („gegen-gegen“) zwar „destruktiv gehalten“, führe aber zu einem „gewissen Ärgernis in der militanten Anarcho-Szene“ und sei schon deshalb sinnvoll:
„[Ziel ist] die endgültige Zerschlagung von Anarchos, Rot-Front und Antifa sowie die Ausschaltung aller destruktiven, antideutschen und antinationalistischen Kräfte in Deutschland […] Die Linke [stellt] als massenbewegender Moment in der demokratischen (Un-)Ordnung keine Gefahr für Staat und Gesellschaft dar. […] Die einzige Übereinstimmung mit dem dummprogrammierten Bundesbürger […] bleibt der Antifaschismus. […] Unser Augenmerk richtet sich gerade auf jene Personen, die mit Beharrlichkeit und Gewaltbereitschaft […] national gesinnte Deutsche, junge und ältere Patrioten, Nationalisten jeglicher Form, konservative und wertbeständige Kräfte angreifen. […] Der Einblick soll ein erster Schritt in die Gegenrichtung sein. […] Ja, die Herren Literaten, Professoren, Richter, Anwälte […] gehören zu den Einheizern des Antinationalismus. […] Wir werden es hier tunlichst vermeiden zur Gewalt im Sinne von Körperverletzungen, Tötungen […] aufzurufen. Jeder von uns muss selbst wissen, wie er mit den hier zugänglich gemachten Daten umgeht.“
Die Distanzierung von Tötungen („vermeiden“) wirkte in diesem Kontext eher als indirekte Aufforderung dazu.[13]
Zu den Propagandastrategien von Rechtsextremisten gehört bereits der verkürzende Begriff „[die] Antifa“: Damit subsumieren sie alle ihre Gegner unter einen Sammelbegriff, darunter die deutsche Justiz, Medien, Vertreter von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und jüdischen Verbänden wie den Zentralrat der Juden in Deutschland und das Internationale Auschwitz Komitee. Zugleich setzen sie diese umfassend definierte Antifa mit „Gewalt“ gleich. So identifizierte das Propagandawerk Antifa heißt Gewalt von 2002 „die Antifa“ mit Linksextremisten und ordnete demokratische Antifaschisten als deren „bürgerliche nützliche Idioten“ in den Medien und an den „Hebeln der Macht“ ein. In diesem Gesellschaftsbild spiegeln sich die antidemokratische Haltung und Ziele derer, die mit dem Antifaschismus die Demokratie und den Rechtsstaat vorführen, benutzen und ihre Gegner mit Drohungen, Terror und Gewalt bekämpfen.[14]
Der Neonazi Steffen Hupka stellte um 1994 in seinem Blatt „Umbruch“ klar, auf wen die Anti-Antifa-Kampagne zielt:
„Jeder, der sich gegen die nationale Sache direkt oder indirekt ausspricht ist Volksfeind. Jeder, der gegen nationale Gruppierungen und deren Anschauungen agitiert, stellt sich gegen das Volk, denn wir vertreten das Volk. [Feinde sind] Redakteure und andere Medienvertreter, Antifa und u.U. bestimmte Linke, Mitarbeiter in städtischen Behörden, Institutionen und Initiativen wie Ordnungsamt, AWO, Post u.a., die sich gegen nationaleingestellte Menschen hervortun.“
Er listete detailliert auf, was über diese Personen gesammelt werden sollte:
„Personalien (Name, Anschrift, Foto), Beruf (wo beschäftigt, Position usw.); Kfz; Auffällig geworden. Wann, wo und mit wem was?; Polit. und gesellschaftl. Aktivitäten (z.B. Mitgliedschaft in Parteien, Organisationen, Kegelverein usw.; Schwachstelle Schulden, schwul, Alkoholiker, Drogen usw.; Psychogramm; Kontakte und Verbindungen zu anderen Zielpersonen; Hobbys, Gewohnheiten usw.“
Er legitimierte diese umfassende Ausspähung mit dem Widerstandsrecht nach Artikel 20 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland: „Der rasende Verfall des Rechtsstaats zwingt uns als Nationale […] zur Selbsthilfe zu greifen“ und sich auf den entscheidenden Konflikt mit den Gegnern vorzubereiten.[15]
Feindeslisten gehören zur Tradition des Faschismus. In der frühen Weimarer Republik stellten antidemokratische Freikorps solche Listen auf, um Gegner ausfindig zu machen und zu ermorden, so das Freikorps Oberland, aus dem die Sturmabteilung (SA) der NSDAP hervorging.[16] Wie die Nationalsozialisten bezeichnen Anti-Antifa-Gruppen ihre Aktivitäten als „Feindaufklärung für Deutschland“, die zur Selbsterhaltung unbedingt notwendig sei: „Man darf einfach nicht vergessen, dass wir im Krieg sind.“[17] Da der gesamte Neonazismus Politik als Krieg begreift, verstehen Freie Kameradschaften ihre Organisationsform als eine Art modernisierte Kriegführung. Ihre Anti-Antifa-Aktivitäten sollten die als erfolgreich und bedrohlich empfundene Antifa kopieren und zugunsten der eigenen Ideologie umdrehen.[18]
Zum Konzept von Anti-Antifa-Gruppen gehörte daher von Beginn an, persönliche Daten von Menschen, die sie als Feinde betrachten, zu sammeln und zu verbreiten. Dabei wird oft bewusst offen gelassen, was gewaltbereite Neonazis mit solchen Informationen machen sollen.[19] Denn nur falls die typischen Namens- und Adressenlisten mit Gewaltaufrufen verbunden sind, können sie als Aufforderung zu Straftaten angezeigt und bestraft werden.[20]
Mit ihren Feindeslisten verfolgen die Ersteller laut dem Rechtsextremismusforscher Hajo Funke drei Hauptabsichten:
- Angst und Schrecken unter den Betroffenen zu verbreiten,
- die gelisteten Personen am „Tag X“ eines erwarteten großen Konflikts ausfindig zu machen und festzusetzen, um sie auszuschalten oder zu töten,
- gelistete Personen direkt und unmittelbar zu gefährden. Dies gelte besonders bei Listen mit relativ wenigen Namen.[21]
Die Feindeslisten dienen vielen Rechtsextremisten auch zur Einübung, aktiven Vorbereitung und geschürten Erwartung eines künftigen globalen Rassenkrieges („Rahowa“). So propagieren die in der Szene international bekannten Turner Diaries von William Luther Pierce in Romanform einen Day of the Rope („Tag des Seils / des Erhängens“), bei dem zehntausende Menschen mit Schildern „Ich habe meine Rasse verraten“ an Straßenrändern aufgehängt werden, um eine „arische Weltordnung“ oder „Weltherrschaft der weißen Rasse“ durchzusetzen.[22]
Vertreter
Anti-Antifa-Aktivisten kommen aus dem gewaltbereiten, ideologisch gefestigten Spektrum des aktionsorientierten Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus. So drohte der Neonazi Karl-Heinz Hoffmann im Juli 1977: Seine Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG) werde Antifaschisten „offen oder heimlich fotografieren, um zu sehen, wer sich mit Linksradikalen einlässt. Ganz sicher werden wir dann daraus unsere Konsequenzen ziehen.“ Infolgedessen ermordete ein WSG-Mitglied am 19. Dezember 1980 den Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke.[23]
Besonders jene Neonazis, die sich seit 1990 als „Freie Kameradschaften“, „Freie Nationalisten“, „Autonome Rechte“ oder „Autonome Nationalisten“ organisieren, beschreiben das systematische Ausspionieren, Bedrohen, Einschüchtern und Angreifen (vermeintlicher) politischer Gegner als ihr zentrales ideologisches Kampffeld.[24]
Der Rechtsextremist Norbert Weidner, ein früheres Mitglied der FAP, leitete Anfang der 1990er Jahre eine studentische Anti-Antifa-Gruppe an der Universität Bonn. Er räumte 1995 in einem Interview ein, dass er den „Einblick“ von 1992 mit erstellt und so die erste deutsche Anti-Antifa-Kampagne mit ausgelöst hatte.[25]
Der V-Mann Kai Dalek leitete 1991 nach dem Tod des führenden Neonazis Michael Kühnen die „Antikommunistische Aktion“. Die Gruppe betrieb die gewaltsame Verfolgung politischer Gegner und gilt daher als Vorläufer der Anti-Antifa. Dalek beteiligte sich auch an der Erstellung des „Einblicks“ vom Herbst 1992. Später stieg er zum Vizechef der Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front auf, einer Nachfolgeorganisation der 1983 verbotenen Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten.[26]
Norman Kempken aus Rüsselsheim war Herausgeber der „Einblick“-Broschüre von 1992. Ein Prozess wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen ihn und die übrigen Ersteller wurde eingestellt; sie erhielten 1995 milde Strafen. Kempken blieb Anti-Antifa-Aktivist in Nürnberg.[27]
1994 begann die „Anti-Antifa Ostthüringen“ um Ralf Wohlleben, André Kapke und die V-Männer Tino Brandt und Kai Dalek länderübergreifend mit dem konspirativen Ausspionieren und Bedrohen politischer Gegner. An ihrer Anti-Antifa-Arbeit beteiligten sich ab 1995 auch Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vom „Nationalen Widerstand Jena“. Sie bildeten 1998 die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), die bis 2007 zehn Menschen ermordete.[28] Sie hatten auch Kontakte zum militanten Neonazinetzwerk Blood and Honour.[29]
In Berlin stifteten Gruppen der Kameradschaftsszene wie „KS Tor“, „Autonome Nationalisten Berlin“ (ANB), „Anti-Antifa Potsdam“ und die Kameradschaft „Berliner Alternative Süd-Ost“ (BASO) seit etwa 2002 zeitweise Verwirrung, indem sie sich Kleidung und Symbolik der Autonomen aneigneten und bei rechtsextremen Kundgebungen als Schwarzer Block auftraten. Tatsächlich suchten sie damit direkte körperliche Konfrontation mit Antifaschisten, um die zuvor etwas abgeebbte Anti-Antifa-Kampagne der 1990er Jahre wiederzubeleben und auch für jüngere Neonazis attraktiv zu machen. Sie traten erstmals am 1. Mai 2003 mit gezielter Anti-Antifa-Propaganda hervor und gingen bald zu körperlichen Angriffen auf Gegner über, so im propagierten Summer of Hate des Jahres 2005.[30]
Als um 2002 führende Anti-Antifa-Aktivisten nannte Anton Maegerle:
- Thekla-Maria Kosche in Kiel, früher mit dem Pseudonym „Gothmag99“ Kopf der zum Thule-Netz gehörenden „Asgard“-Mailbox, später im norddeutschen „Bündnis Rechts“ aktiv,
- Casjen Bayen in Uelzen, früher bei der FAP, dann für die HNG aktiv,
- Oliver Schweigert (Nationales und Soziales Aktionsbündnis Mitteldeutschland).[31]
Der bayerische Verfassungsschutzbericht 2006 erwähnte erstmals die Gruppe Anti-Antifa-Nürnberg (AAN) mit 10 Mitgliedern.[32] Mitglied der AAN ist unter anderem Sebastian Schmaus, der ab 2008 für die Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) im Nürnberger Stadtrat saß.[33]
Der Vertreter der Neuen Rechten Hans-Helmuth Knütter gilt für Rechtsextremismusexperten wie Anton Maegerle, Thomas Grumke und Bernd Wagner als „führender Kopf der intellektuellen Anti-Antifa“,[34] der zur „akademischen Variante der Anti-Antifa“ gehört.[31] Clemens Heni bezeichnete Claus Wolfschlag als „Anti-Antifa Akademiker“.[35] Weitere Propagandisten der Anti-Antifa sind Alfred Mechtersheimer und Roland Wuttke von der „Deutschland-Bewegung“, die sich rechtskonservativ darstellt, aber als rechtsextrem eingestuft wird.[36]
Ideologische Legitimation
Der Bonner Politikwissenschaftler Hans-Helmuth Knütter agitierte schon in den 1980er Jahren gegen den Antifaschismus. 1987 veröffentlichte er dazu das Buch „Antifaschismus als Mittel der Destabilisierung der Bundesrepublik Deutschland“. Darin behauptete er, die Bundesrepublik befinde sich in einem Bürgerkrieg, der sich nur graduell von militärisch geführten Bürgerkriegen unterscheide. Dafür machte er einen angeblich „manipulativen“ Gebrauch des Antifaschismus durch linke und linksextreme Kreise verantwortlich, die nicht Rechtsextremismus abwehren, sondern die politische Ordnung der Bundesrepublik diffamieren wollten. 1992 wirkte das Werk als universitäre Unterstützung der entstehenden „Anti-Antifa“.[37]
In den 1990er Jahren unterstützte Knütter Anti-Antifa-Gruppen direkt.[12] Er legitimierte die beginnende „Feindaufklärung“ von Neonazigruppen mit seinem 1994 gegründeten „Arbeitskreis Linksextremismus“. In diesen nahm er Mitglieder vom Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM), Autoren der neurechten Zeitschrift Junge Freiheit, Funktionäre der Vertriebenenverbände, Vertreter des RCDS und viele Burschenschafter auf. So bildete dieser Kreis eine Art akademische Anti-Antifa-Kampftruppe.[36]
Feindeslisten
1990er Jahre
1992 rief Christian Worchs Broschüre „Der Einblick“ dazu auf, „möglichst viele personenbezogene Daten über die antifaschistischen Gewalttäter sowie deren Unterstützer bis hin ins bürgerliche Lager zu sammeln und abrufbar zu dokumentieren“.[38] 1993 nannte das Blatt Treffpunkte von Autonomen sowie rund 250 nach Städten und Regionen geordnete Namen, Adressen und Telefonnummern von Gewerkschaftern, Politikern von Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Steckbriefe beschrieben ihre Kleidung, Angehörigen, Kinder, Partner; Kommentare dazu lauteten etwa „Zum Abschuss freigegeben“.[39] Das Blatt rief dazu auf, ihnen „unruhige Nächte“ zu bereiten und sie „endgültig auszuschalten“.[27]
Seitdem bildeten sich bundesweit Anti-Antifa-Gruppen. Neonazis sandten Späher in gegnerische Gruppen und bildeten sie in deren Sprache und Denkweise aus. Rechte Organisationen speicherten die gesammelten Daten über Linke auch auf Festplatten. Das Nazi-Blatt „Die Neue Front“ pries den PC als geeignetes Hilfsmittel, um Informationen vor der Polizei zu schützen, etwa Anleitungen zum Bombenbau. Den Artikel über Datensicherheit kopierten die Neonazis aus einem Blatt der Autonomen.[39]
„Die Neue Front“ veröffentlichte mehrere Ausgaben mit Adressen missliebiger Bürger und bildete etwa den damaligen Generalbundesanwalt Kay Nehm mit einer Maschinenpistole auf der Stirn ab. Herausgeber des Blattes war der Neonazi Eite Hohmann. Als „Europakoordinator“ von Gary Laucks NSDAP-Aufbauorganisation versuchte er in den Niederlanden eine Zentralstelle für Anti-Antifa-Listen einzurichten.[40]
Um 1995 veröffentlichte eine „Revolutionäre Anti-Antifa-Zelle“ aus Rheinland-Pfalz, die eine niederländische Kontaktadresse hatte, das Heft „Brauner Partisan“ als „Stimme der braunen Untergrundbewegung“. Darin waren viele Namen, Adressen und Fotografien von „Roten“ abgedruckt, zu denen die Autoren auch Büros und Vertreter der Grünen zählten. Bilder von Vermummten mit Schusswaffen illustrierten die Steckbriefe. Auf der Rückseite stand: „ZOG zerschlagen! Das Geschwür auf dem kranken Volkskörper muss aufgeschnitten und ausgepresst werden, bis das rote Blut herausfließt.“[41]
Der V-Mann Kai Dalek baute damals das Thule-Netz auf, zunächst als Mailboxsystem für ausgewählte „Führungskader“. Die Benutzer erstellten rund 220 Personenprofile von „Feinden“ (Namen, Adressen und Beschreibungen von Abgeordneten, Journalisten, Richtern und Staatsanwälten) und ließen sie im Thulenetz mit dem Kommentar kursieren: „Adressen sind nicht dafür da, dass sie gelöscht werden, sondern dass ihr damit umgeht!“ Der „Sumpf“ werde langsam aber sicher „trockengelegt“. Man habe „um die 10.000 Datensätze“ „‚zugespielt‘“ erhalten und besitze von „diversen Linkspostillen“ den gesamten Kundenverteiler.[42] Ab 1997 betreute der FAP-Angehörige Mario S. aus Fuldatal das Thulenetz. Dort veröffentlichte Kai Dalek 1999 unter der Überschrift „Organisationen gegen Deutschland“ eine Feindesliste mit 200 Personen und Adressen, die ihm der V-Mann Andree Z. „zum Verwenden und Verbreiten“ geschickt hatte. Einige dieser Daten tauchten später in anderen Feindeslisten wieder auf.[43]
Im Dezember 1999 fand die Polizei Berlin eine mit „Wehrwolf“ betitelte Liste mit Fotos und Adressen von 54 Politikern, darunter Joschka Fischer, Angela Merkel, linke Gruppen, jüdische Einrichtungen, Verfassungsschutzämter, Parlamente und Berliner Gedenkstätten für Opfer des NS-Regimes. Letztere waren auf einem Stadtplan markiert. Die Liste erwähnte die Publikation „Reichsruf“ eines Rechtsextremen aus Rheinland-Pfalz, der schon wegen illegalem Waffenbesitz, Schändung jüdischer Friedhöfe, Drohanrufen, Terrorpropaganda und „Anti-Antifa“-Datensammelei aufgefallen war. Deshalb ermittelte die Berliner Polizei wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung. Auch niedersächsische Neonazis um Thorsten Heise waren an der überregionalen Anti-Antifa-Kampagne beteiligt. Polizeibehörden mehrerer Bundesländer beschlagnahmten große Mengen Anti-Antifa-Material. In Göttingen fand das BKA Anleitungen und Einzelteile zum Bombenbau bei vier Neonazis, die dennoch nicht verhaftet wurden. Das Landeskriminalamt Niedersachsen warnte die Göttinger „Autonome Antifa (M)“ vor Briefbomben von Neonazis aus diesem Umfeld.[44]
2000er Jahre
Rechtsextreme veröffentlichen oft auch kaum von Gewaltaufrufen unterscheidbare Drohungen gegen Strafverfolger und Berichterstatter:
- Im Jahr 2000 riet der Holocaustleugner Germar Rudolf in seinen geschichtsrevisionistischen Vierteljahresheften für freie Geschichtsforschung dem Mannheimer Staatsanwalt Hans Heiko Klein, „sich im eigenen Interesse besser etwas zurückzuhalten“, da die rechtsextreme Szene „nun die Bleistifte spitzt und anfängt, Strichlisten zu machen“.
- Ende 2001 bedrohte der Nationale Widerstand Nürnberg ermittelnde Staatsanwälte in Chemnitz, sie sollten sich ruhig immer tiefer „in untilgbare Verbrechensschuld verstricken“. Ihre Namen kämen dann „in unsere ‚Kundendatei‘ – Namen derer, die wir, wenn das Blatt sich radikal gewendet haben wird, dann sehr eingehend ‚betreuen‘ werden“. Sie verbreiteten die Drohung über die Neonazipostille „Der weiße Wolf“.
- Bei einem Neonaziaufmarsch in Lüdenscheid am 24. Februar 2001 verlas Timo Pradel (NPD) die Namen von 20 lokalen Politikern und Journalisten, die er einer Pogrom-Hetze gegen „nationale Deutsche“ bezichtigte.
- Im Frühjahr 2001 veröffentlichte die Anti-Antifa-Postille „Landser“ die Adressen und Telefonnummern von zwei Nürnberger Gymnasiallehrern, die Projekte gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit durchgeführt hatten. Deren Häuser wurden mit roter Farbe beschmiert.
- 2001 veröffentlichte Frank Rennickes Freundeskreis mehrmals die Adresse und Telefonnummer eines gegen ihn ermittelnden Staatsanwalts in Kornwestheim.[31]
Ab 2001 rief die „Fränkische Aktionsfront“ (FAF) um Matthias Fischer (Fürth) und Norman Kempken Bürger mit tausenden Flugblättern dazu auf, sich an „Aktionen gegen linke Gewalt“ zu beteiligen und Daten von Antifaschisten an ein angegebenes Postfach zu senden, um Gewalttaten gegen sie vorzubereiten. Bis 2004 veröffentlichte die FAF kontinuierlich Namen und Fotografien von engagierten Lehrern, linken Schülern und Journalisten aus dem Raum Nürnberg.[27]
Der mutmaßliche Rechtsterrorist Michael Krause, der sich am 27. Mai 2008 nach einem Schusswechsel mit Polizisten erschoss, besaß neben 38 bundesweit verteilten Waffen- und Sprengstoffdepots eine „Feindnamenliste“ mit Namen von Politikern, Polizeibeamten, Richtern und anderen Personen, von denen er sich verfolgt gefühlt haben soll.[45]
Die Terrorgruppe NSU erstellte ab 2006 bis zu ihrer Selbstenttarnung 2011 fortlaufend eine Liste mit 10.000 Namen vermeintlicher Gegner.[46] Auch der am 2. Juni 2019 ermordete Regierungspräsident Walter Lübcke stand darauf,[47] ebenso Name und Adresse eines Kasseler Lehrers, auf den 2003 gezielt geschossen worden war. Diese Daten stammten aus der Feindesliste des Thulenetzes von 1999. Der Name des Lehrers stand auch auf einer Liste möglicher Anschlagsziele, die der Kasseler Lübcke-Mörder Neonazi Stephan Ernst von 2001 bis 2007 zusammengestellt hatte. Die Liste wurde bei den Ermittlungen zum Mordfall Walter Lübcke (1. Juni 2019) in Ernsts Haus gefunden. Der Verdacht, er habe 2003 auf den Lehrer geschossen, ließ sich jedoch nicht erhärten.[43]
Internet
2011 erschien die Webseite „Nürnberg 2.0“: Der Name spielt auf die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher an. Die Ersteller möchten etwa die Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere Politiker vor ein solches Tribunal stellen. Dazu sammeln sie die Namen von Personen aus Politik, Medien und Kultur. Der Blogger Michael M. schrieb auf der Seite im September 2011, „Leugner und Unterstützer der Islamisierung werden bald zur Verantwortung gezogen. Wir werden die Namen der Verräter erfassen. Ob es sich um kleine Schreiberlinge in irgendwelchen Redaktionsstuben, um Chefredakteure, um Verlagsleitungen, um verlogene, zum Islam konvertierte Islamwissenschaftler, um Politiker – oder um Parteien, Verbände und Institute handelt.“ Wer „dem Islam zuarbeitet“, werde sich in „Nürnberg 2.0“ zu verantworten haben.[48] Auch auf diesem Internetpranger stand der später ermordete Walter Lübcke.[49]
Die Autonomen Nationalisten haben ihre Feindeslisten auch nach dem Ende des NSU 2011 weiter professionalisiert und veröffentlichen für fast jede Region Deutschlands solche Listen im Internet. Sie machen vor allem Immobilien linksgerichteter Organisationen, linke Buchläden und Kulturzentren zum Zielobjekt für Angriffe.[50] Immer mehr professionelle „Anti-Antifa“-Webseiten wurden im Ausland gehostet, um sie dem Zugriff der deutschen Justiz zu entziehen. Die Ersteller veröffentlichen in sozialen Netzwerken zugängliche Fotos, Adressen und private Daten der Betroffenen (etwa ihre Schule, Arbeitsstelle, Vereinsmitgliedschaften, Vita). Während sie früher relativ wahllos Informationen sammelten, spähen sie nun Neonazigegner (Journalisten, Politiker, alternative Jugendliche usw.) möglichst zielgenau aus. Anders als beim Doxing durch Linke, die Rechtsextreme vorrangig demaskieren und öffentlich bloßstellen, veröffentlichen und verbreiten Neonazis ganze Steckbriefe mit Details, die Betroffene als physisch anzugreifende Opfer markieren und unmittelbar bedrohen. Im Kontext der Strategie, „national befreite Zonen“ zu schaffen und in bürgerliche Milieus vorzudringen, wurden engagierte Jugendliche bei Demonstrationen gegen Rechts 2012 von Rechtsextremen gezielt angesprochen und fotografiert; die Fotografien wurden dann auf Webseiten regionaler Kameradschaften veröffentlicht. Eine rechtsextreme Telefonistin besorgte die Dortmunder Privatadressen von alternativen Jugendlichen aus den Kundendaten eines Mobilfunkanbieters. In Berlin nahm ein rechtsextremer Briefzusteller Postsendungen an vermeintliche Linke mit nach Hause und wertete die erbeuteten Informationen aus. Ein rechtsextremer Angestellter holte sich 184 Adressen politischer Gegner aus der Datenbank eines Finanzamts. Rechtsextreme Anwälte besorgen Neonazis aus Prozessakten die Privatadressen von Zeugen und Opfern, die dann unter Umständen mit Mord bedroht werden. Berliner autonome Nationalisten um Sebastian Schmidtke betrieben eine aufwändige Feindesliste im Netz, die Steckbriefe von rund 200 missliebigen Personen bot, darunter Bundestagsabgeordnete wie Wolfgang Thierse oder Wolfgang Wieland. Sie drohte ihnen allen mit einem „Strick um den Hals oder [einer] Kugel in den Bauch“.[51]
Im Januar 2019 erschien im Netz unter dem Titel „#WirKriegenEuchAlle(e)“ eine Liste mit rund 200 Namen und Adressen von Politikern, Journalisten oder Aktivisten, die auch nach der Löschung seitens der Plattform weiterverbreitet wurde.[52]
Im August 2019 fand die seit Jahren bestehende antisemitische Feindesliste „judas.watch“ stärkere mediale Beachtung. Anonyme Ersteller sammeln dort öffentlich Namen von Menschen, die sie als „Verräter an weißen Personen“ ansehen. Es gehe darum, „anti-weiße und anti-westliche Bestrebungen deutlich zu machen“, „Insider“ zu outen und „jüdischen Einfluss“ zu dokumentieren. Man solle dabei auf das Wort „Judas“ achten. Namen jüdischer Menschen werden auf der Webseite besonders hervorgehoben und mit einem gelben Davidstern markiert. Ihr Lebenslauf und ihre Kontaktdaten werden veröffentlicht und Hinweise auf ihr angeblich „schädigendes Verhalten“ werden gegeben. Nichtöffentliche Aussagen von Politikern wie Marian Offman zur Flüchtlingskrise in Europa ab 2015 fanden sich ebenso auf der Seite wie Funktionsträger jüdischer Institutionen, etwa Charlotte Knobloch. Manche Namen waren auch schon auf der Webseite „Nürnberg 2.0 Deutschland“ gelistet. Auf der Seite erschien auch ein Aufruf, „Rassenschande“ zu melden. Ein Rechtsextremist in Österreich mit dem Pseudonym “Kikel Might” erklärte in einem Interview: „judas.watch“ sei eine „Datenbank“ mit dem Ziel, „unsere Feinde zu dokumentieren, Weiße und andere Personen in öffentlichen Ämtern“, darunter auch Juden. Angestrebt sei, dass man „den ganzen Dreck über unsere Feinde findet.“ Das Innenministerium Österreichs erklärte, solange auf der Seite nicht explizit zu Gewalt gegen die gelisteten Personen aufgerufen werde, sei „derzeit keine explizite Gefährdung für die jeweils betroffenen Personen ersichtlich“. Nachdem der Verein „WerteInitiative“ in weiteren Strafanzeigen die Jugendschutz-Vorschriften geltend machte, wurde die Hetzseite in Suchmaschinen indiziert und war ab 17. Januar 2020 offline. Betroffene zeigten sich erleichtert und verlangten, nun die Hintermänner der jahrelangen antisemitischen und rassistischen Volksverhetzung zu finden und zu bestrafen.[53] Drei Wochen später, ab 23. Februar 2020, war die Seite wieder online. Um Strafbarkeit zu vermeiden, änderten der oder die Ersteller nur den Eingangstext auf “Doing the Job the Media Refuses to Do”. Aktuell sind dort 30 Menschen und Institutionen aus München gelistet, viele davon mit einem gelben Judenstern markiert. Darunter sind Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen, an die Israelitische Kultusgemeinde spenden, öffentlich an den Holocaust erinnern, am Christopher Street Day teilnehmen, die jüdische Religion oder den Islam vertreten. Die Generalstaatsanwaltschaft München ermittelt wegen Volksverhetzung gegen den mutmaßlichen Betreiber “Kikel Might”, der ein Informatiker aus Wien sein soll.[54]
Von August 2018 bis Juni 2021 verschickten Rechtsextreme verschlüsselte Mails oder Faxe mit Signaturen wie „NSU 2.0“ und Morddrohungen an antifaschistisch engagierte Menschen, besonders an linke Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund. Einige Adressaten standen zuvor auf rechtsextremen Feindeslisten. Wie diese sollten die Drohungen die Empfänger und ihr Umfeld einschüchtern und mundtot machen.[55]
Berlin-Neukölln (ab 2016)
Seit etwa 2015 werden bei deutschen Rechtsextremen und Rechtsterroristen häufiger Feindeslisten entdeckt und durch Medienberichte bekannt.[56] Der Neonazi Sebastian Thom und seine Kontaktpersonen wurden ab 2016 als mögliche Täter einer Brandanschlagsserie auf Antifaschisten in Berlin-Neukölln verdächtigt und ab Januar 2017 überwacht.[57] Thom tauschte ab Oktober 2016 mit dem AfD-Kreisvorstandsmitglied Tilo Paulenz in Internetchats Fotografien politischer Gegner aus. Ende November 2016 informierte Paulenz andere Neonazis über Aktionen einer Neuköllner Buchhandlung gegen die AfD. Im Dezember 2016 wurden diese und ihr Inhaber angegriffen. Seit Januar 2017 verfolgten und bedrohten die beiden Neonazis den Neuköllner Politiker Ferat Kocak (Die Linke). Im April 2017 teilte Thom Paulenz mit, er besitze 2400 Fotos von den „Feinden“. Der Verfassungsschutz hörte die Gespräche mit und informierte das LKA Berlin, das die beiden Neonazis jedoch nicht überwachen ließ.[58] Am 15. Januar 2018 fanden Thom und Paulenz Kocaks Privatadresse heraus, indem sie ihn auf dem Nachhauseweg verfolgten. Der Verfassungsschutz beobachtete sie dabei und übermittelte seine Beobachtungen am 30. Januar 2018 dem LKA Berlin. Dieses ließ die Verdächtigen jedoch nicht festnehmen und warnte Kocak nicht. In der Nacht zum 1. Februar 2018 zündeten Unbekannte seinen Pkw und den des Buchhändlers Heinz Ostermann an. Das LKA beantragte am Abend des 1. Februar Haftbefehle und Durchsuchungsbeschlüsse gegen Thom und Paulenz wegen dringenden Tatverdachts an diesen und zwei früheren Brandstiftungen. Das Amtsgericht Tiergarten lehnte die Haftbefehle wegen unzureichend begründeter Verdachtsmomente ab und erlaubte nur die Durchsuchungen. Obwohl dabei Laptops, Speicherkarten, Handys und schriftliche Unterlagen sichergestellt wurden, klärte die eigens eingesetzte LKA-Ermittlungsgruppe die Anschlagsserie bis 2019 nicht auf. Bei Thom wurde eine handschriftliche „Feindesliste“ mit Namen und Adressen von Personen gefunden, auf deren Wohnhäuser oder Pkws schon Anschläge verübt worden oder deren Häuser mit rechten Drohungen beschmiert worden waren. Wegen der Drohmails von NSU 2.0 und einer SMS eines Berliner Staatsschutzbeamten an Neonazis wurde vermutet, dass auch die Berliner Adressen zum Teil aus Polizeicomputern stammten und von Polizeibeamten an Neonazis weitergegeben worden sein könnten. Der Generalbundesanwalt lehnte die Übernahme der Ermittlungen zu dem Tatkomplex jedoch im Dezember 2018 ab.[57]
Im November 2019 fand die Polizei auf Thoms PC eine weitere Datei mit den Namen und Privatdaten von rund 500 Personen. Darunter waren laut Angaben von André Rauhut, Chef des Berliner Staatsschutzes, Mitglieder der Berliner Antifaszene, Journalisten, Politiker und Polizeibeamte. Keine dieser Personen sei konkret gefährdet. Bis dahin wurden drei Neonazis im Umfeld von Sebastian Thom 72 Straftaten in Neukölln zur Last gelegt.[59] Erst seit Juli 2020 informierte die Berliner Polizei die 500 bei Thom gelisteten Personen.[60]
Bundeswehr 2017
Der bei den Terrorermittlungen gegen Bundeswehrsoldaten ab 2017 festgenommene Franco A. besaß eine Liste mit insgesamt 32 Personen, Objekten und Organisationen als mutmaßlichen Anschlagszielen, darunter Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung, Anne Helm (Die Linke Berlin), Bundesaußenminister Heiko Maas, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow, die damalige Vizepräsidentin des Bundestags Claudia Roth, der Zentralrat der Juden in Deutschland und der Zentralrat der Muslime.[61]
Kundendatei Impact Mailorder
Am 20. Januar 2015 hackten Neonazis aus der Kameradschaftsszene die Kundendatei des Online-Versandhandels “Impact Mailorder” mit rund 40.000 Namen, Adressen und Telefonnummern. Die Hacker unterzeichneten ihren Bekennerbrief mit „Es grüßt der Nationale Widerstand“. Die NPD-Jugendorganisation Junge Nationalisten (JN) in Brandenburg prahlte im Internet: „Zeckendatenbank geknackt… Hier die Liste einiger Antifas. Viel Spaß.“ Auch eine „Nationalsozialistische Hacker-Crew“ bekannte sich zu dem Diebstahl und beschrieb ihn als Vergeltungsaktion. Die Hacker gaben 250 Kundennamen bekannt und verbreiteten die übrigen über externe Downloadserver. Sie drohten, bei „jedem Hackerangriff von linksgerichtetem Ursprung“ weitere „10000 Daten“ zu veröffentlichen.[62]
Seitdem verbreiten Rechtsextremisten jene Kundenliste oder Teile davon unter der irreführenden Bezeichnung einer „Antifa-Liste“. Der Rechtsextremist Mario Rönsch stellte auf der Webseite „Anonymous.ru“ im September 2016 mehr als 20.000 Namen, Adressen, Telefonnummern und Mailadressen daraus als Excel-Tabellen zum Download bereit und rief im Begleittext zu Gewalt gegen die veröffentlichten Personen auf. Auf derselben Seite bewarb sein Onlineshop „Migrantenschreck“ den Kauf von Waffen und Hartgummimunition für Schüsse auf Flüchtlinge.[63]
Am 14. Juli 2017 verbreitete der AfD-Landtagsabgeordnete Heiner Merz rund 25.000 Namen, Adressen und E-Mail-Adressen aus jener Kundendatei als E-Mail-Anhang. Er forderte dazu auf, dass AfD-Mitglieder die Liste „speichern, verbreiten und verwenden“, um Personen aus ihrem lokalen Umfeld zu suchen, sie bekannt zu machen und zu denunzieren: „Der Fantasie sind wenig Grenzen gesetzt.“ Auch die rechtsterroristische Gruppe „Revolution Chemnitz“ besaß Daten aus der Kundendatei.[64] Ein Ermittlungsverfahren wegen Datenhehlerei gegen Merz wurde eingestellt.[65]
Die Gruppe Nordkreuz führte eine umfangreiche Feindesliste mit 24.522 Namen und Adressen von linken Aktivisten, Politikern und bekannten Künstlern aus dem ganzen Bundesgebiet, großenteils von Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen.[66] Die Daten stammten teils aus Polizeicomputern, teils aus öffentlichen Quellen, großenteils aber aus der 2015 gehackten Kundendatei. Die Liste wurde im Juli 2018 bekannt.[67] Nach von der Polizei protokollierten Aussagen eines Mitglieds wollten Nordkreuzmitglieder mit der Liste „linke Persönlichkeiten“ finden, um sie „im Konfliktfall zu liquidieren“.[68] Nach dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sind auf der Nordkreuzliste Personen aus 7963 Orten in Deutschland und dem Ausland verzeichnet.[69]
Im Oktober 2020 wurde dem BKA eine Feindesliste bekannt, die Gegner der Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie in Deutschland auf Telegram verbreiten. Sie enthielt bis dahin Namen von rund 170 Journalisten, Politikern und Aktivisten, versehen mit Hinweisen wie „Impfpropaganda“, „BRD GmbH“ oder „Bill Gates“. Die Genannten seien „auffällige Personen, die im Sinne der Billiardäre handeln“. Persönliche Daten nannte die Liste nicht. Sie führte unter anderen Anetta Kahane, den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein und die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau auf. Kahane sprach von einer klaren Bedrohung und „Zielmarkierungen für Pöbeleien oder Schlimmeres“ und warnte vor dem stark anwachsenden Antisemitismus in der Corona-Protestbewegung. Klein warnte: „Die Verschwörungserzählungen von angeblich geheimen Mächten verbinden die gesellschaftliche Mitte mit radikalisierenden Rändern.“ Diese Verbindung gefährde die Grundlagen der Gesellschaft. Pau stellte Strafanzeige.[70] Frank Überall (Deutscher Journalistenverband) warnte: Die Liste sei „ein übler Versuch der Einschüchterung“ und solle die Betroffenen als Ziele für Drohungen, Beleidigungen und Schlimmeres markieren. Er forderte die Sicherheitsbehörden auf, die Bedrohung durch sogenannte Coronaleugner und Querdenker ernst zu nehmen und die Coronaprotestbewegung genau zu beobachten. Man sehe dort neben berechtigter Kritik „leider zunehmend Antisemitismus, Rassismus, Verschwörungsideologien und Demokratiefeindlichkeit, die sich auch in verbalen und körperlichen Angriffen auf Journalisten bahnbrechen“.[71]
Im Februar 2022 veröffentlichten deutsche rechtsextreme Impfgegner als Webseite eine interaktive Onlinekarte mit tausenden Adressen und Kontaktdaten angeblicher Antifa-Aktivisten in Deutschland, Österreich und Dänemark und dem Kommentar: Die „Jäger“ würden nun zu Gejagten. Die Daten stammen aus der 2015 gehackten Kundendatei des Onlineshops Impact Mailorder und beziehen sich auf dessen Kunden, nicht auf Mitglieder von Antifagruppen. Die Urheber der Onlinekarte geben sich unter dem Label „Anonymous“ als Teil eines Hackerkollektivs aus und verbreiteten in mehreren Coronaleugner- und Impfgegnergruppen auf Telegram die Botschaft: „Jetzt schlägt Anonymous zurück“. Auch der frühere baden-württembergische AfD-Landtagsabgeordnete Heinrich Fiechtner verbreitete die Karte und den Jagdaufruf. Thüringens Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer verwies auf Internetaufrufe von Neurechten und Gegnern der Coronamaßnahmen, neue Listen mit politischen Gegnern zusammenzustellen. Es gehe darum, engagierte Personen anschließend mit „Hausbesuchen“ einzuschüchtern, damit sie sich nicht mehr öffentlich äußern und zurückziehen. Sie bekämen „Hinweise, dass man wisse, wo sie zur Arbeit gehen oder wo deren Kinder in die Schule oder in den Kindergarten gehen“. Dass die nun erneut verbreiteten Listen schon mehrere Jahre alt sind, mache sie nicht weniger gefährlich, da die Hemmschwelle für Übergriffe auf den Privatbereich deutlich gesunken sei.[72]
Gewalttaten
Obwohl Autoren der Feindeslisten meist nicht direkt zu Gewalt aufrufen, distanzieren sie sich nicht ausdrücklich davon und lassen den Gebrauch ihrer Daten für Gewalttaten gegen Einzelpersonen und linke oder alternative Projekte zu. Der Bekanntgabe von Privatdaten im Rahmen von „Anti-Antifa“-Arbeit folgen daher oft Angriffe auf die Betroffenen, etwa auf der Straße, dem Schulweg, auf ihre Wohnung, Fensterscheiben, Einrichtungen, ihren Pkw, Drohbotschaften im Briefkasten und anderes.[51]
1988 verübte der 19-jährige Lehrling Josef Saller einen Brandanschlag auf ein von türkischen Migranten bewohntes Haus in Schwandorf, bei dem vier Menschen, darunter Kinder, erstickten und verbrannten. Saller war Mitglied der Neonazigruppe Nationalistische Front (NF), die zuvor Feindlisten erstellt hatte[73] und später verboten wurde. Er verbüßte 12 Jahre Haft und kam dann auf Betreiben der rechtsextremen Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG; 2011 verboten) frei.[74]
Den ersten Anti-Antifa-Aufrufen der frühen 1990er Jahre folgte eine Serie von Bombenanschlägen, darunter:
- vier Paketbomben gegen Journalisten in Schweden, die entschärft wurden;
- eine Briefbombe, die den Sekretär einer linken Gruppe in Dänemark tötete;
- eine Briefbombe, die an Arabella Kiesbauer in München adressiert war und ihre Sekretärin schwer verletzte (Juni 1995),
- eine weitere Briefbombe, die dem Vizebürgermeister von Lübeck Dietrich Szameit galt und einen Mitarbeiter schwer verletzte (Juni 1995). Szameit hatte die Urteile gegen die Täter eines Brandanschlags auf die Lübecker Synagoge (25. März 1994) zuvor als zu milde kritisiert.[6]
Die letzten beiden Briefbomben und weitere hatte der vierfache Mörder Franz Fuchs versandt.[75] Fuchs behauptete, die Taten für eine „Bajuwarische Befreiungsarmee“ verübt zu haben; Mittäter wurden jedoch nicht gefunden oder nicht ausreichend gesucht. Die Kombination von Anti-Antifa-Arbeit, Mordanschlägen mit Briefbomben und dem Aufbau von „Werwolf“-Strukturen beobachteten Experten damals auch bei anderen Neonazis.[76]
Die „Anti-Antifa Ostthüringen“ traf sich seit 1994 wöchentlich und bereitete gemäß dem Aufruf des „Einblick“ Gewaltaktionen sorgfältig vor. Sie beging viele Angriffe auf Antifaschisten und störte 1995 mit einer Bombenattrappe eine Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus in Rudolstadt.[77]
Kay Diesner, der im Februar 1997 mit Schüssen einen Buchhändler schwer, einen Polizisten tödlich und einen weiteren schwer verletzte, war seit 1991 von seiner Gruppe Nationale Alternative in Wehrsportlagern im Umgang mit scharfen Waffen für Anschläge ausgebildet worden. Zudem hatte er bei Anti-Antifa-Arbeit linke Jugendliche bespitzelt, Daten politischer Gegner gesammelt, darunter PDS-Mitgliedern, und bei Demonstrationen von Autonomen Gewalt provoziert. Der Buchladen, den er angriff, gehörte zu den Anschlagszielen, die in der Anti-Antifa-Szene kursierten.[78]
Ab 1998 beobachtete der deutsche Verfassungsschutz eine erhebliche Zunahme von Anti-Antifa-Aktivitäten mit fließenden Übergängen zum Rechtsterrorismus: In der Szene werde offen überlegt, in den Untergrund zu gehen.[79] Erst 2011, nach zehn Morden, wurde der NSU durch seine Selbstenttarnung entdeckt.
In Ostdeutschland wurden vermehrt Übergriffe etwa mit Pflastersteinen und Morddrohungen gegen Abgeordnete der Partei Die Linke festgestellt, deren Namen auf Feindeslisten standen.[80]
2006 bekannte sich das mehrfach vorbestrafte NPD-Vorstandsmitglied Jürgen Rieger in einem Interview offen zum mörderischen Zweck der Feindeslisten: „Warten Sie es doch ab. Wenn der erste Reporter umgelegt ist, der erste Richter umgelegt ist, dann wissen Sie, es geht los. Reporter, Richter, Polizist, Sie!“[14]
Im März 2010 warfen Anhänger der Anti-Antifa Wetzlar einen Molotowcocktail auf das Haus eines gegen Rechtsextremismus engagierten Kirchenmitarbeiters. Das Landgericht Limburg verurteilte die Täter wegen versuchten Mordes zu mehrjährigen Haftstrafen.[81]
Im Oktober 2010 beteiligte sich ein früheres Mitglied der Kameradschaft Aachener Land (KAL) an der Ermordung des 19-jährigen Irakers Kamal Kilade in Leipzig. Am 26. Juni 2011 verübten Neonazis fünf Brandanschläge auf linke Hausprojekte und ein Jugendzentrum. Die Internetseite des „Nationalen Widerstands Berlin“ hatte alle diese Projekte zuvor mit Foto und Adresse als „gute Anschlagsziele“ genannt. Seitdem wurden viele weitere der genannten Häuser beschmiert und ihre Scheiben zerstört.[51]
2012 verübten mutmaßlich Mitglieder der AAN um Nürnberg vermehrt Angriffe gegen engagierte Bürger und Antifa-Aktivisten. Dabei wurden Autos beschädigt, Häuser beschmiert, Scheiben eingeworfen und zuletzt ein totes Kaninchen in einen Briefkasten gesteckt. In Fürth veröffentlichten Unbekannte ein Flugblatt und diffamierten eine Lehrerin als Linksextremistin.[82]
Nach der Selbstenttarnung des NSU und im laufenden NSU-Prozess nahmen Gewalttaten aus Anti-Antifa-Gruppen weiter zu. Laut dem Verfassungsschutz Berlin stand das Jahr 2013 ab August „uneingeschränkt im Zeichen der Provokation und Bedrohung von Institutionen und Personen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Diese wurden im August Opfer einer regelrechten Serie rechtsextremistisch motivierter Straftaten.“[14]
Kurz nach Sebastian Thoms Haftentlassung im Mai 2016 begann in Berlin-Neukölln eine zweite jahrelange Anschlagserie. Dabei griffen Neonazis bisher 55 antifaschistisch engagierte Personen an, etwa mit Morddrohungen, Steinwürfen, Sachbeschädigungen und 16 Brandanschlägen, meist auf Pkws. Trotz mehrerer Ermittlungsgruppen wurde bisher kein Täter festgenommen und verurteilt. Ein für Überwachung Tatverdächtiger zuständiger LKA-Beamter traf sich im März 2018 mit dem bereits gesuchten Sebastian T., nahm ihn jedoch nicht fest. Der Betroffene Ferat Kocak führte solche und andere Fehler auf „die Rechten im Sicherheitsapparat, die die Ermittlungen behindern und dafür sorgen, dass diese Terrorserie seit über zehn Jahren nicht aufgeklärt wird“, zurück und forderte einen Untersuchungsausschuss. Kocak erfuhr erst ab 1. Februar 2018, dass er auf der bei Sebastian Thom gefundenen Feindesliste stand. Das LKA war über dessen Anschlagspläne auf Kocaks Pkw informiert, hatte aber nichts dagegen unternommen und Kocak nicht rechtzeitig gewarnt. Dies und andere Vorfälle bestärkten den Verdacht einer Zusammenarbeit rechtsextremer Berliner Polizisten mit den Neonazis.[58]
Gegenmaßnahmen
Auf Strafanzeigen und Medienanfragen zur Hetzseite „judas.watch“ erklärte das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) 2019, das Sammeln und Veröffentlichen von „Informationen zu Personen“ sei für politisch motivierte Kriminalität (PMK) üblich und gehe „in der Regel grundsätzlich nicht mit einer unmittelbaren bzw. konkreten Gefährdungslage für die Betroffenen einher.“ Betroffene widersprachen: Die Polizei dürfe nicht abwarten, bis gelistete Menschen zu Schaden kämen, sondern müsse solche Hetzseiten sperren lassen.[83]
Im Februar 2020 plädierte BKA-Leiter Holger Münch dafür, das Veröffentlichen von Informationen über mutmaßliche politische Gegner auf Feindes- oder Todeslisten härter zu bestrafen und nicht nur als datenschutzrechtlichen Verstoß zu behandeln. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) erinnerte daran, dass solche Listen nicht bloße Webseiten sind, sondern rechtsextreme, militante Neonazinetzwerke, die sich auf Anti-Antifa-Arbeit inklusive Fotografien von Gegnern spezialisieren und schon öfter zu Anschlägen auf sie führten. Dabei hätten sich die Gruppen der Betroffenen stetig erweitert: Früher seien oft Anwälte, Journalistinnen, Antifaschisten und Gewerkschafter angegriffen worden. Heute stünden zunehmend Personen aus der Kommunal- und Landespolitik und engagierte Flüchtlingshelfer auf solchen Listen. Die bloße Strafverschärfung sei der falsche Fokus. Die Behörden müssten von Amts wegen eine Auskunftssperre für die Betroffenen veranlassen, diese sofort und vollständig über die zu ihnen rechtswidrig gesammelten Daten informieren und sie sowie die unabhängigen zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen bei der Analyse von Gefährdungssituationen einbeziehen. Feindeslisten seien oft Basis für Gewaltstraftaten. Betroffene sollten immer überlegen, wie Neonazis an ihre Daten gekommen sein können und wie sie online zugängliche private Informationen besser schützen könnten.[84]
Im Juni 2020 beschloss die Bundesregierung, das Anlegen von Feindeslisten, „die bei anderen die Bereitschaft wecken sollen, Straftaten gegen die betroffenen Personen zu begehen“, unter Strafe zu stellen. Dabei will die SPD nur veröffentlichte, als Bedrohung wahrnehmbare Listen, die CDU dagegen schon das nichtöffentliche Anlegen solcher Listen strafbar machen.[85]
Bis 4. Januar 2021 registrierte das BKA 24 Feindeslisten aus dem Phänomenbereich PMK, davon 20, die im Internet abrufbar sind oder waren. Die meisten Daten stammten aus öffentlich zugänglichen Quellen. Die Gesamtzahl der Betroffenen ließ sich wegen ständiger Überarbeitung der Listen nicht feststellen. Auch zu den Urhebern machte die Bundesregierung auf Nachfrage im März 2021 keine Angaben. Die meisten und umfangreichsten Feindeslisten stammen jedoch nach Medienrecherchen von Neonazis, darunter die 2015 gehackte Kundenliste von 24.300 Namen, die über eine rechtsextreme Chatgruppe an die Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“ und das Preppernetzwerk „Nordkreuz“ gelangt war.[86]
Im Februar 2021 legte das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf für die geplante Änderung des Strafgesetzbuches vor, um den Schutz von durch Feindeslisten bedrohten Personen zu stärken.[86] Das Gesetz vom 14. September 2021 (BGBl. I S. 4250) führt mit dem § 126a des Strafgesetzbuches das gefährdende Verbreiten personenbezogener Daten als Tatbestand ein.
Literatur
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- Javier Rojas: Anti-Antifa. Ein Handbuch über eine aktive Tarnorganisation der Nazis. J. Rojas, Stuttgart 1999, ISBN 3-00-004043-9.
- Andrea Röpke, Andreas Speit (Hrsg.): Braune Kameradschaften. Die neuen Netzwerke der militanten Neonazis. Christoph Links, Berlin 2004, ISBN 3-86153-316-2.
- Heribert Schiedel: Kulturpolitik von vorgestern und Anti-Antifaschismus. In: Wolfgang Purtscheller (Hrsg.): Die Rechte in Bewegung. Seilschaften und Vernetzungen der "neuen Rechten". Picus, Wien 1995, ISBN 3-85452-289-4, S. 100 ff.
Weblinks
- Artikel zum Thema Anti-Antifa bei:
- Apabiz
- Belltower News
- Blick nach Rechts
- Der Rechte Rand
- DokMZ.com
- Marie Frank: Auf der Feindesliste: Linke-Politikerin im Visier des Hauptverdächtigen der rechten Terrorserie in Neukölln. ND, 14. Januar 2020.
- Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten: Vorgangsablauf und Dokumente im DIP
Einzelnachweise
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- ↑ Jan Zobel: Volk am Rand: NPD: Personen, Politik und Perspektiven der Antidemokraten. Edition Ost, 2005, S. 99 f.
- ↑ Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste — Drucksache 12/4739 —: Drohungen von Rechtsextremisten gegen Journalisten/Journalistinnen. Drucksache 12/4866, 6. Mai 1993 (PDF), S. 1.
- ↑ Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS — Drucksache 13/1329 —: Der „Studentenbund Schlesien“ (SBS), die „Hochschulgruppe Pommern“ und der Rechtsextremismus. Drucksache 13/1518, 30. Mai 1995 (PDF), S. 3 und 10.
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