Fraktionsloser Abgeordneter

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Ein fraktionsloser Abgeordneter ist ein Mitglied eines Parlamentes, das keiner Fraktion angehört.

Abgeordnete gleicher Parteizugehörigkeit bilden üblicherweise im Parlament eine Fraktion. Die Fraktionslosigkeit kann sich daraus ergeben, dass die Gesamtzahl der parteilichen Abgeordneten die Mindestgröße für eine eigene Partei-Fraktion nicht erreichen, wenn der Abgeordnete aus der Fraktion austritt oder ausgeschlossen wird (siehe auch Parteiloser) oder bei seiner Wahl keiner Partei oder Wählergemeinschaft angehörte.

In einigen Parlamenten organisieren sich fraktionslose Abgeordnete in einer Gruppe. Im italienischen Parlament z. B. sind Abgeordnete, die keiner Fraktion angehören, automatisch Mitglied der Gruppo Misto (gemischte Gruppe), in der französischen Nationalversammlung wählen die in der réunion administrative des sénateurs ne figurant sur la liste d’aucun groupe (RASNAG) organisierten fraktionslosen Abgeordneten einen Sprecher, der sie gegenüber dem Parlamentspräsidium vertritt.

Europäisches Parlament

Die Abgeordneten im Europäischen Parlament, die sich keiner der Parlamentsfraktionen anschließen, werden meist als non-inscrits (NI, französisch: „nicht eingeschrieben“) bezeichnet. Die Voraussetzungen zur Bildung einer Fraktion sind eine Mindestgröße von 25 Abgeordneten, die aus sieben Mitgliedsländern entsandt werden sein müssen, sowie eine gemeinsame politische Ausrichtung. Aktuell sind Abgeordnete fraktionslos (Stand 20. Februar 2022[1]).

Während es im Europäischen Parlament nach der ersten Direktwahl 1979 noch eine gemischte Fraktion für die technische Koordinierung und Verteidigung der unabhängigen Gruppen und Abgeordneten nach dem Vorbild des italienischen bzw. französischen Parlaments gab, wurde die 1999 gegründete Technische Fraktion der Unabhängigen Abgeordneten wegen „fehlender politischer Zugehörigkeit“ aufgelöst. Der Europäische Gerichtshof bestätigte später diese Auflösung.

Deutscher Bundestag

Im Deutschen Bundestag ist der Einfluss von fraktionslosen Abgeordneten weit geringer als bei Mitgliedern einer Fraktion oder Gruppe: Sie können keine Gesetzesinitiativen starten oder beim Ältestenrat Plenardebatten beantragen. Bundestagsausschüssen können sie zwar als beratende Mitglieder mit Rede- und Antragsrecht angehören, dürfen jedoch nicht abstimmen. Auch ihr Rederecht im Plenum ist begrenzt.[2]

Durch die Fünf-Prozent-Hürde bei Bundestagswahlen ziehen in der Regel keine fraktionslosen Abgeordneten neu in den Bundestag ein, fünf Prozent der Abgeordneten sind auch für die Bildung einer Fraktion notwendig. Ausnahme davon sind Abgeordnete von Minderheitenparteien – so wie 2021 Stefan Seidler für den SSW – und Abgeordnete mit Direktmandaten, deren Partei nicht die Sperrklausel übersprang – zuletzt 2002 Gesine Lötzsch und Petra Pau für die PDS. Bei mindestens drei Abgeordneten ist die Bildung einer Gruppe möglich, dies war zuletzt 1994 ebenfalls bei der PDS der Fall, die auf Grund der Grundmandatsklausel in den Bundestag einzog, aber mit 4,5 % der Abgeordneten keine Fraktion bilden konnte.

Ansonsten gehörten fraktionslose Abgeordnete in der Regel vorher einer Fraktion an oder traten dieser bei Konstituierung der Fraktion oder nach dem Nachrücken in den Bundestag nicht bei. Oft geht der Austritt aus der Fraktion mit dem Austritt oder Ausschluss aus der Partei einher.

Gerichtliche Entscheidungen

Maßgebliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts waren die Wüppesahl-Entscheidung 1989[3] und die PDS-Entscheidung 1997.[4] Die Entscheidungen fließen auch in die Beurteilung der Rechte der sogenannten Abweichler in deutschen Parlamenten ein.

Der fraktionslose Abgeordnete Thomas Wüppesahl führte 1989 ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses entschied mit Urteil vom 13. Juni 1989, dass die Verwehrung der Mitgliedschaft in einem Ausschuss mit Rede- und Antragsrecht – aber ohne Stimmrecht – gegen das Recht des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verstoße.[3] Auch ein „angemessenes Rederecht“ von Einzelabgeordneten wurde festgestellt. Des Weiteren kann seit seiner Entscheidung jeder Einzelabgeordnete unabhängig von einer Fraktionsbindung in die Gesetzgebungsverfahren eingreifen, indem sie in der Zweiten Lesung Änderungsanträge einbringen können. Außerdem stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Ausschüsse des Parlaments die Zusammensetzung des Plenums verkleinert abbilden müssen und dass die Vorbereitung von Entscheidungen und Beschlüssen des Plenums die Erarbeitung mehrheitsfähiger Entscheidungsgrundlagen voraussetzt. Damit wäre nicht vereinbar, wenn sich die politische Gewichtung innerhalb des Parlamentes nicht in den Ausschüssen widerspiegeln würde.[3]

1997 formulierte das Bundesverfassungsgericht in der so genannten Zweiten PDS-Entscheidung den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit noch deutlicher.[4] In Abweichung von dem üblicherweise bei der Gremienbesetzung angewandten Verfahren liege ausdrücklich keine missbräuchliche Handhabung der „Geschäftsordnungsautonomie“ der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages.

Fraktionslose Abgeordnete im 20. Deutschen Bundestag

Politiker/in Zeitraum gewählt für Bemerkung
Stefan Seidler ab Konstituierung SSW
Matthias Helferich ab Konstituierung AfD Verzicht auf Beitritt zur Fraktion
Uwe Witt ab 30. Dez. 2021 auch aus Partei ausgetreten
Johannes Huber ab 30. Dez. 2021
Robert Farle ab 9. Sep. 2022 weiterhin Mitglied der Partei

Deutsche Landesparlamente

Durch Austritte und Auflösungen von Fraktionen gibt es auch in vielen deutschen Landesparlamenten fraktionslose Abgeordnete. Bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft gibt es zwei getrennte Wahlbereiche – die Städte Bremen und Bremerhaven – so dass relativ regelmäßig Abgeordnete in das Parlament einziehen, die keine Fraktion bilden können. In anderen Ländern ist dies nur beim Erringen eines Direktmandates möglich. Zuletzt gelang das Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein, die für die FDP in die Hamburgische Bürgerschaft einzog. Derzeit (Stand 24. November 2021) sind 37 der 1884 Abgeordnete (2,0 %) in den Landesparlamenten fraktionslos.

Österreich

Im österreichischen Nationalrat gab es von August bis November 2012 mit Robert Lugar, Erich Tadler, Gerhard Köfer und Elisabeth Kaufmann-Bruckberger vier Abgeordnete, die klub-, aber nicht parteilos waren. Sie alle gehörten dem Team Stronach an. Im November 2012 erhielten sie durch weiteren Zulauf den Klubstatus für einen neuen Klub.

Nach der Nationalratswahl 2013 war Monika Lindner knapp zwei Monate klublose Abgeordnete.[5] Sie erhielt ihr Mandat für das Team Stronach, von dem sie sich aber bereits im Vorfeld der Wahl trennte.

Im August 2015 verließ die Nationalratsabgeordnete Jessi Lintl (Team Stronach) die Partei und wurde „wilde“ Abgeordnete.[6] Am 2. November 2015 wurde die Nationalratsabgeordnete Susanne Winter aus der FPÖ ausgeschlossen, sie war daraufhin ebenfalls als „wilde“ Abgeordnete im Nationalrat.[7] Am 1. März 2016 trat der Nationalratsabgeordnete Marcus Franz aus dem ÖVP-Parlamentsklub aus.[8] Kurz vor der Nationalratswahl 2017 kam es zu mehreren Klubaustritten und der Auflösung des Klubs des Teams Stronach, so dass zu Ende der Legislaturperiode 14 Abgeordnete ohne Klub im Parlament vertreten waren.

In der 26. Gesetzgebungsperiode wurde Martha Bißmann im Juli 2018 aus dem Klub der Liste Jetzt, Efgani Dönmez im September 2018 aus dem ÖVP-Klub ausgeschlossen. Beide gehörten danach weiterhin dem Nationalrat an.

In der 27. Gesetzgebungsperiode zog Philippa Strache als fraktionslose Abgeordnete auf einem Mandat der FPÖ in den Nationalrat ein und wurde am 23. Oktober 2019 aus der FPÖ ausgeschlossen.[9]

Literatur

  • Jörg Kürschner: Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten. Duncker & Humblot, Berlin 1984 (Beiträge zum Parlamentsrecht 8), ISBN 3-428-05553-5
  • Hans Hugo Klein: Austritt, Ausschluss, Rechte: Der fraktionslose Abgeordnete. Vortrag I, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 35 (2004), Heft 4, Seite 627–632.
  • Martin Morlok: Austritt, Ausschluss, Rechte: Der fraktionslose Abgeordnete. Vortrag II, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 35 (2004), Heft 4, Seite 633–645.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. europarl.europa.eu
  2. Was fraktionslose Abgeordnete alles nicht dürfen. Spiegel Online.
  3. a b c BVerfG, Urteil vom 13. Juni 1989, Az. 2 BvE 1/88, BVerfGE 80, 188 - Wüppesahl.
  4. a b BVerfG, Beschluss vom 17. September 1997. AZ 2 BvE 4/95, BVerfGE 96, 264 - Fraktions- und Gruppenstatus.
  5. Dr. Monika Lindner legt Nationalratsmandat zurück.
  6. Jessi Lintl verlässt Team Stronach. orf.at, 11. August 2015; abgerufen am 11. August 2015.
  7. Antisemitismus-Skandal bei Österreichs Freiheitlichen. NZZ.ch, 3. November 2015.
  8. Marcus Franz verlässt nach Merkel-Sager die ÖVP. derStandard.at, 1. März 2016; abgerufen am 1. März 2016.
  9. Strache aus FPÖ ausgeschlossen. In: ORF.at. 23. Oktober 2019, abgerufen am 23. Oktober 2019.