Frauenorchester

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Von Frauen gegründet und geleitet und oft nach einer Frau benannt, spielen im Frauenorchester (Frauenkapelle, Frauenensemble) nur Frauen. Für Instrumentalistinnen war es bis Ende des 20. Jahrhunderts schwer, in mitteleuropäischen Orchestern beruflich Fuß zu fassen.[1]

Begriff und Situation

Ehrung der Königin und Musikerin Anacaona (1464–1504) (Karibik). Historisierendes Bild von 1851

Die Theater- und Orchesterlandschaft Deutschlands, die über eine „besonders hohe Dichte und Vielfalt“ verfügt, wurde für den Status eines Unesco-Weltkulturerbes nominiert.[2][3] In Anbetracht des langen Weges „von Musikerinnen in die Berufsorchester“[4] und der vorherrschenden Konzertpraxis, Werke von Komponistinnen zu ignorieren, gründete Elke Mascha Blankenburg 1986 ein reines Frauenorchester, das „Clara Schumann Orchester“ in Köln.[5] Allerdings gab es weltweit schon immer weibliche Musikensembles, das zeigt z. B. die rare Fotografie eines südafrikanischen weiblichen Bläserensembles mit 10 Hörnern und drei Schlaginstrumenten zur Begleitung des Phalaphala-Tanzes.[6][7] Oder das cubanische Son-Ensemble aus Havanna, das mit „Anacaona[8] den Namen einer Taíno-Königin und Musikerin des 15. Jahrhunderts trug.

Unikum und Harem

Josephine Weinlichs Damenorchester 1874 (Holzschnitt von Vinzenz Katzler)

Das „Unikum Frauenorchester“ wirft die Frage nach „Männerorchester“ auf, eine gleichermaßen ungewohnte Bezeichnung,[9] denn männlich besetzte Orchester waren selbstverständlich. Inzwischen sind Ausnahmen beim „Gendern“ nötig: seit Frauen mitspielen, wurden die Bamberger Symphoniker nicht zu Bamberger „Symphoniker*innen“ oder gar „Bamberger Symphoniker und Symphonikerinnen“. In bisherigen Lexiken einschließlich dem 2021 erschienenen, 1500 Seiten starken Lexikon des Orchesters[10] sucht man einen Artikel Frauenorchester vergeblich, obwohl es Frauenorchester seit der Antike gibt. Die vom Musik-Ethnologen Curt Sachs angeführte syrische Frauenkapelle des ägyptischen Königs Echnaton wurde ohne Weiteres in der großen deutschen Nachkriegs-Enzyklopädie Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG) als „Harems-Musikantinnen“ disqualifiziert.[11] Zum (Ersatz-)Artikel Damenorchester, der mit „Nähe von Sexarbeit“, „Kontrollen der strengen Sittenpolizei“, „keine künstlerische Ambition“ usw. von „misogyner“ Rezeption spricht, ist die gleichzeitige Abbildung des u. a. bei der Weltausstellung 1873 in Wien aufgetretenen Josephine Weinlich Damenorchesters deplatziert.[12][13]

Klöster

Madrigale der komponierenden Kloster-Dirigentin Vittoria Raffaella Aleotti

Das jahrhundertelange Sing- und Auftrittsverbot für Frauen im Gottesdienst[14] hat sich im Christentum auf die weltliche Musikpraxis und bis weit über Italien hinaus ausgewirkt. So wurden Frauenklöster die einzigen Stätten, wo Frauen relativ frei musizieren konnten.[15] Aber zu diesem hochentwickelten Musikleben fehlt eine kontinuierliche Aufarbeitung.

Nonne mit Taktstock

Im Augustinerinnen-Kloster San Vito in Ferrara, wo Raffaella Aleotti (1575–?1646) mit vierzehn Jahren Nonne und später als Komponistin[16] und Organistin Priorin wurde (sie änderte dort ihren Vornamen Vittoria in Raffaella), übernahm sie im Jahr 1593 die Leitung des Concerto grande, das aus insgesamt 23 Sängerinnen und Instrumentalistinnen bestand. Die Instrumente dieses Nonnen-Orchesters waren Cembalo, Lauten, Violen, Flöten, Cornetti und Posaunen, das wurde „lebhaft“ von den zeitgenössischen Musiktheoretikern und Komponisten Ercole Bottrigari (1531–1612) und Giovanni Maria Artusi (~1540–1613) beschrieben.[17] Eine Besonderheit ist die Nennung des „langen, polierten Stabes“ Aleottis (Taktstock), der im männlichen Dirigentenwesen „gerne [als] explizites Machtsymbol interpretiert“ wird, aber hier seine früheste bekanntgewordene Verwendung fand.[18]

Francesco Guardi

Francesco Guardis Gemälde von 1782 zeigt einen weiblichen Chor mit Orchester, beides gebildet aus Schülerinnen der Venezianischen Ospedali. Über Ort und Anlass dieses vermutlichen Oratorium-Konzertes wird bis nach München berichtet:[19] „ […] von allen Zöglingen unsrer verschidenen musikalischen Konservatorien“, […] die im „filarmonischen“ Saale des Gebäudes der Prokuratien am Piazza San Marco in Venedig für russische Staatsgäste ein „grosses und prächtiges Konzert“ gaben. Diese Konzerte gehörten damals zu den Fremdenverkehrs-Attraktionen der Inselstadt.

Hinter Gittern

Guardis Darstellung ist insofern eine Besonderheit, als Mädchen und Frauen wegen des Musizierverbots grundsätzlich nicht gesehen und betrachtet werden sollten. An ihren hauptsächlichen Auftrittsorten, den Kirchen, wurden sie deshalb von Gittern verdeckt, wie Goethe während seiner Italienreise seinen Venedigbesuch beschreibt: „Einen zierlichen Käfig erblickte ich; hinter dem Gitter regten sich emsig und rasch Mädchen des süssen Gesangs.“[20] So sind bei Guardi die Musikerinnen nicht zentral, sondern auf den seitlichen Emporen platziert, und von den Zuhörern scheint niemand sich den Hals nach ihnen zu verdrehen.

Das Gemälde zeigt nur erwachsene Schülerinnen, da wäre die Bezeichnung „Frauenorchester“ statt des verniedlichenden „Mädchenorchester“ angebracht, das immer wieder zu lesen ist.[21]

Frau und Orchester

Wilhelmines „orchestre“ 1739

Frau und Orchester war lange keine Selbstverständlichkeit, so wie auch Blasinstrumente, insbesondere das „Blech“, lange für Frauen tabu waren. Dennoch gab es Orchestergründungen mit Männerbesetzung durch Frauen. Das war der Fall bei Sophie Charlotte von Hannover (1665–1705), der ersten preußischen Königin in Berlin, und ebenso bei deren Enkelin Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758). Ein Orchester (→ Bild) mit chorischer Streicherbesetzung, Soloflöte und gut besetztem Basso continuo: Wilhelmine leitend am Clavecin, dazu Cello, Fagotte und Kontrabass, war Voraussetzung für die höfische Oper. Rechts abgebildet sind auch Sängerinnen (eine aktiv, eine weitere mit Noten auf ihren Auftritt wartend), ein deutliches Zeichen für weibliche hohe Stimmen im Zeitalter der Kastraten.

19./20. Jahrhundert

Ab dem 19. Jahrhundert entwickelten sich die Orchester in Europa zu monumentaler Größe für Sinfonien etwa von Anton Bruckner und Gustav Mahler. Für kleinere Orchester bürgerte sich der Begriff Kammerorchester ein. Hand in Hand mit der Entwicklung des Sinfonieorchesters entstand ein ausgeprägtes Dirigentenwesen, für dessen männliche Dominanz Herbert von Karajan Beispiel ist. Es existieren von ihm Tonaufnahmen, die allein das Standardrepertoire in mehrmaligen Aufführungen dokumentieren.[22]

Die Wiener Philharmoniker stellten erst 1997 die erste Frau ein, die Harfenistin Anna Lelkes.[23] Bei den Berliner Philharmonikern gehörte zu den ersten Frauen-Engagements die Klarinettistin Sabine Meyer, deren Anstellungsgeschichte ein besonders negatives Kapitel darstellt.[24]

Ein Alleinstellungsmerkmal hat das 1943 gegründete Mädchenorchester von Auschwitz nicht nur von seiner Funktion her als „Häftlingsorchester“, denn es dürfte im 20. Jahrhundert in Deutschland der erste Fall eines reinen Frauenorchesters gewesen sein. Anders, als der dafür geläufige Titel Mädchenorchester aus „Laienmusikerinnen“[25] nahelegt, bestand es aus erwachsenen, zum großen Teil professionell ausgebildeten Instrumentalistinnen und u. a. der hochkünstlerischen Leiterin Alma Rosé.[26] Seine überlebende Cellistin Anita Lasker-Wallfisch war nach dem Krieg Mitbegründerin des English Chamber Orchestra.

Beispiele für Frauenorchester

Frauen-Salonorchester:

Literatur

  • Patrick Barbier: Histoire des Castrats. Grasset Paris 1989, ISBN 2-246-10681-1.
  • Alicia Castro: Anacaona. Aus dem Leben einer kubanischen Musikerin. [Geschichte eines kubanischen Frauenorchesters] Econ-Verlag München 2002, ISBN 3-430-11752-6.
  • Sonja Erhardt: Europäischer Musiktransfer. Russland im 18. Jahrhundert. Wilhelm Finck 2019, ISBN 978-3-7705-6464-4, S. 73.
  • Gavin Holman: Women and Brass (2020)
  • Anita Lasker-Wallfisch: Die Kapelle in: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2020, ISBN 978-3-499-22670 0, S. 124–144.
  • Lexikon des Orchesters. Orchester und Ensembles weltweit. Geschichte und Aufführungspraxis. Komponisten und Dirigenten. Orchesterpraxis. Hrsg. von Fr. Heidelberger, G. Schröder u. Chr. Wünsch. Laaber-Verlag Lilienthal 2021, ISBN 978-3-89007-551-8.
  • Anthony Milner: Die Spätrenaissance. Zu Ferrara insbesondere S. 151/52, ISBN 0-253-21422-X. In: Alec Robertson und Denis Stevens (Hrsg.): Geschichte der Musik. Renaissance und Barock. Deutsche Ausgabe Prestel-Verlag, München 1990 (1963), ISBN 3-88199-711-3.

Siehe auch

Figlie di Coro aus den Venezianischen Ospedali

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Weblinks

Commons: All-female musical groups – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Tatsachenbericht einer Posaunistin (Abbie Conant).
  2. Pressemitteilung. Nominierung der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft für die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes in Paris eingereicht. In: UNESCO. 3. April 2018, abgerufen am 16. September 2022.
  3. Dieser Vorgang ist noch nicht abgeschlossen: Bojan Budisavljevic: Alternativer Blick auf die Orchesterlandschaft. In: Neue Musikzeitung. 2020, abgerufen am 16. September 2022.
  4. Drinker-Institut, Christian Ahrens
  5. ELke Mascha Brandenburg
  6. MGG 1, Bd. 10 1962, Sp. 169/170.
  7. Phalaphala-Tanz
  8. Anacaona →Trivia.
  9. Ausnahme „Männerorchester von Auschwitz“.
  10. Lexikon des Orchesters. Laaber-Verlag Lilienthal 2021.
  11. MGG 1, Bd. 10, 1962, Sp. 168.
  12. Lexikon des Orchesters Bd. I, S. 253–254.
  13. Annkatrin Babbe
  14. Manfred Vasold: FAZ, 16. März 2005, Nr. 63, S. N3
  15. In Deutschland z. B. Kloster Wienhausen.
  16. Arno Lücker: Raffaella Aleotti
  17. The new Grove Dictionary of Women Composers. The Macmillan Press, Great Britain 1994, 95, 96, S. 7 (dort weitere Literaturangaben).
  18. Im Lexikon des Orchesters, Bd. II, S. 514/515 dagegen frühestes Datum 1775.
  19. „Münchener Stats-, gelehrte, und vermischte Nachrichten, Dienstag, den 5ten Hornung 1782, 21“. Zitiert in: Sonja Erhardt: Europäischer Musiktransfer. Russland im späten 18. Jahrhundert. Wilhelm Fink Verlag, Brill Paderborn 2019, S. 286 u. 287.
  20. Johann Wolfgang von Goethe: Epigramm. In P. Winter: Venezianische Epigramme, nach Jane L. Baldauf-Berdes: Women Musicians. 1993, S. 233, Anmerkung 1.
  21. Lexikon des Orchesters I, S. 663.
  22. Martin Elste, (Hrsg. Lars E. Laubhold und Jürg Stenzl): Ein Schallplattendirigent wird aufgebaut. Karajans EMI-Jahre. Salzburg 2008, ISBN 978-3-7025-0583-7, S. 171–178.
  23. Chronologie 2006
  24. Bericht über die Anstellung der ersten Frauen bei den Berliner Philharmonikern
  25. Lexikon des Orchesters I, S. 663.
  26. Anita Lasker-Wallfisch: Die Kapelle. In: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. S. 124–144.