Grundrechte (Schweiz)

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Grundrechte werden in der Schweiz hauptsächlich durch die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV) gewährleistet. Weitere Rechtsgrundlage bildet insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Bundesverfassung sieht Voraussetzungen vor, unter denen einzelne Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Sie sind wichtiger Bestandteil des Rechtsstaates.

Rechtliche Grundlagen

Bundesverfassung

Aktueller Katalog

Klassische Freiheitsrechte
Grundrecht Artikel der BV
Menschenwürde Art. 7
Recht auf Leben und persönliche Freiheit Art. 10
Schutz der Privatsphäre Art. 13
Recht auf Ehe und Familie Art. 14
Glaubens- und Gewissensfreiheit Art. 15
Meinungs- und Informationsfreiheit Art. 16
Medienfreiheit Art. 17
Sprachenfreiheit Art. 18
Wissenschaftsfreiheit Art. 20
Kunstfreiheit Art. 21
Versammlungsfreiheit Art. 22
Vereinigungsfreiheit Art. 23
Niederlassungsfreiheit Art. 24
Schutz vor Ausweisung, Auslieferung und Ausschaffung Art. 25
Eigentumsgarantie Art. 26
Wirtschaftsfreiheit Art. 27
Koalitionsfreiheit Art. 28
Rechtsgleichheit und weitere rechtsstaatliche Garantien
Grundrecht Artikel der BV
Rechtsgleichheit und Diskriminierungsverbot Art. 8
Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben Art. 9
Allgemeine Verfahrensgarantien, insbesondere
Verbot der formellen Rechtsverweigerung
Recht auf rechtliches Gehör,
Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege
Art. 29
Rechtsweggarantie Art. 29a
Garantien im gerichtlichen Verfahren Art. 30
Garantien bezüglich Freiheitsentzug Art. 31
Garantien bezüglich Strafverfahren Art. 32
Petitionsrecht Art. 33
Garantie der politischen Rechte Art. 34
Soziale Grundrechte
Grundrecht Artikel der BV
Recht auf Hilfe in Notlagen Art. 12
Recht auf Grundschulunterricht Art. 19

Nicht zu den sozialen Grundrechten zählen die Sozialziele (Art. 41 BV). Ob der Schutz der Kinder und Jugendlichen (Art. 11 BV) ein soziales Grundrecht darstellt oder zu den Sozialzielen zu zählen ist, ist ungeklärt.

Teilweise werden auch der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und das Streikrecht zu den sozialen Grundrechten gerechnet.

Geschichtliche Entwicklung

Formell auf dem Papier gab es in der Schweiz erstmals 1798, nach dem Einmarsch französischer Revolutionstruppen, Grundrechte. Einige wenige, etwa die Gewerbefreiheit, blieben in den nachfolgenden Jahrzehnten eingeschränkt erhalten. Umfassendere Grundrechts-Kataloge in den einzelnen Kantonen resultierten erst nach den liberalen Revolutionen anfangs der 1830er Jahre, und dann mit der Bundesverfassung von 1848.

Die Bundesverfassung von 1874 nannte folgende Grundrechte explizit:

Seit 1959 erkannte das Bundesgericht ungeschriebene Grundrechte an, bis zum Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung folgende: Eigentumsgarantie (vor der expliziten Verankerung 1969), persönliche Freiheit einschliesslich des Rechts auf Leben und eines Willkür-Verbots, Sprachenfreiheit, Meinungsäusserungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf Existenzsicherung.

In der neuen Bundesverfassung von 1999 wurden die Grundrechte in einem Katalog zusammengefasst. Dabei wurden die vom Bundesgericht anerkannten ungeschriebenen Grundrechte und die wichtigsten grundrechtlichen Ansprüche aufgrund von internationalen Konventionen in die Verfassung aufgenommen. Am 1. Januar 2007 trat Art. 29a BV in Kraft, welche die Rechtsweggarantie vorsieht.

Internationales Recht

Im internationalen Recht sind für die Grundrechte in der Schweiz insbesondere folgende Rechtsquellen beachtlich:

Das Bundesgericht bemüht sich in der Praxis darum, die EMRK und die Grundrechte gemäss Bundesverfassung in Übereinstimmung zu bringen.

Kantonsverfassungen

Grundrechte können in Kantonsverfassungen gewährleistet werden. Rechtliche Bedeutung haben diese jedoch nur, wenn sie über den Grundrechtskatalog der Bundesverfassung hinausgehen.[1] Beispiele dafür sind das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (Art. 17 Abs. 3 Kantonsverfassung Bern, Art. 17 Kantonsverfassung Zürich), der Anspruch auf staatliche Beihilfe an die erste Berufsausbildung (Art. 37 Kantonsverfassung Waadt) oder das Recht der Eltern auf eine staatliche oder private familienergänzende Tagesbetreuungsmöglichkeit zu finanziell tragbaren Bedingungen innert angemessener Frist (§ 11 Abs. 2 lit. a Kantonsverfassung Basel-Stadt). Weil es häufig keine kantonale Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, haben kantonale Grundrechte eine geringe praktische Bedeutung. Allerdings besteht die Möglichkeit einer Beschwerde ans Bundesgericht bei Verletzung kantonaler verfassungsmässiger Rechte (Art. 95 lit. c Bundesgerichtsgesetz).

Einschränkungen von Grundrechten

Grundrechte können gemäss Art. 36 BV unter Bedingungen eingeschränkt werden:

„(1) Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.“

„(2) Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein.“

„(3) Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.“

„(4) Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.“

Für Beschränkungen von Grundrechten müssen daher vier Bedingungen erfüllt sein: Es muss ein genügend bestimmter und formell rechtmässiger Rechtssatz vorliegen, wobei für schwerwiegende Eingriffe ein Gesetz im formellen Sinn erforderlich ist. Ausnahme bildet die polizeiliche Generalklausel, welche zeitlich dringende Massnahmen zum Schutz von fundamentaler Rechtsgüter erlaubt. Weiter muss die Grundrechtseinschränkung einem öffentlichen Interesse bzw. dem Schutz der Grundrechte Dritter dienen. Als dritte Bedingung wird Verhältnismässigkeit gefordert. Dabei wird zwischen Eignung der Massnahme, den beabsichtigten Zweck zu erreichen, der Erforderlichkeit, wonach die Massnahme das mildeste Mittel zu sein hat, und der Verhältnismässigkeit im engeren Sinn, welche eine Abwägung der betroffenen öffentlichen und privaten Interesse vornimmt, unterschieden. Die letzte der vier Bedingungen verlangt, dass der Kerngehalt des Grundrechts durch den Eingriff nicht verletzt wird.

Diese Kriterien für die Einschränkungen von Grundrechten ist im Wesentlichen auf die klassischen Freiheitsrechte zugeschnitten. Insbesondere für Eingriffe in die Rechtsgleichheit gelten andere Bedingungen. Bei den sozialen Grundrechten ist Art. 36 BV gemäss Bundesgericht sinngemäss anwendbar.

Durchsetzbarkeit von Grundrechten

Bei Verletzung von Grundrechten, welche verfassungsmässige Rechte darstellen, besteht gemäss Art. 189 Abs. 1 BV die Möglichkeit einer Beschwerde an das Bundesgericht. Dies erfolgt mittels Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten oder mittels subsidiärer Verfassungsbeschwerde.

Die Grundrechte stellen direkt anwendbares Recht dar; ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit erfordert keine Ausführungsgesetzgebung. Dies gilt sowohl für die Grundrechte in der Bundesverfassung als auch für diejenigen gemäss EMRK und UNO-Pakt II. Den Rechten in UNO-Pakt I räumt das Bundesgericht hingegen nur programmatischen Charakter ein; diese begründen grundsätzlich keine unmittelbar anwendbare Normen.

Bundesgesetze, welche Grundrechte verletzen, sind jedoch aufgrund von Art. 190 BV von den Gerichten und Behörden anzuwenden. Ausnahme bilden Grundrechte, die ebenfalls durch die EMRK gewährleistet werden, da die durch die EMRK gewährleisteten Menschenrechte nach der bundesgerichtliche Rechtsprechung Vorrang vor Bundesgesetzen haben (siehe ausführlicher: Völkerrechtlicher Vertrag (Schweiz)#Völkerrechtlicher Vertrag und Bundesgesetz).[2]

Literatur

  • Jörg Paul Müller: Verwirklichung der Grundrechte nach Art. 35 der schweizerischen Bundesverfassung. Stämpfli Verlag, Bern 2018.
  • Ulrich Häfelin, Walter Haller, Helen Keller, Daniela Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 10. Auflage. Schulthess, Zürich 2020, ISBN 978-3-7255-8079-8

Weblinks

Belege