Kernenergie in der Schweiz

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Die Kernenergie trägt rund 35 Prozent zur Gesamtstromerzeugung in der Schweiz bei.[1] Derzeit (Stand: Ende 2019) werden in der Schweiz an drei Standorten vier Reaktorblöcke mit einer installierten Bruttogesamtleistung von 3'095 MW betrieben. Der erste kommerziell genutzte Reaktorblock ging 1969 in Beznau in Betrieb.

Liste der Kernreaktoren in der Schweiz

In der Schweiz werden mit insgesamt vier Kernreaktoren (Beznau 1 und 2, Gösgen, und Leibstadt) 35,2 % des produzierten Stroms erzeugt, weitere 56,4 % mit Wasserkraftwerken und 4,2 % in konventionell-thermischen Kraftwerken bzw. auf der Basis anderer regenerativer Energien (2019).[2] Überwacht werden sie vom Rat des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI) der Aufsichtsbehörde für die nukleare Sicherheit und Sicherung der schweizerischen Kernanlagen. Der Rat ist ein unabhängiges Gremium, das vom Bundesrat gewählt wird und nur diesem direkt unterstellt ist. {{#lst:Liste der Kernkraftwerke in Europa|Schweiz}}

Geschichte

In der Schweiz gab es neun Volksabstimmungen zum Thema Kernenergie.[3]

  • 24. November 1957: „Bundesbeschluss über die Ergänzung der Bundesverfassung durch einen Artikel 24quinquies betreffend die Atomenergie und den Strahlenschutz“; 77,3 % stimmten dem Bundesbeschluss zu.
  • 18. Februar 1979: „Volksinitiative «zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen»“; mit 48,8 % Ja- gegen 51,2 % Nein-Stimmen und 8 2/2 gegen 12 4/2 Stände scheiterte die Initiative sowohl am Volks- als auch am Ständemehr.
  • 20. Mai 1979: fakultatives Referendum zum Atomgesetz: Wahlbeteiligung 37,64 %[4], davon 68,86 % Ja-Stimmen[5]
  • 23. September 1984: „Volksinitative «für eine Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke»“; mit 45,0 % Ja- gegen 55,0 % Nein-Stimmen und 5 2/2 gegen 15 4/2 Stände scheiterte die Initiative am Volksmehr und am Ständemehr.
  • Am 23. September 1990 gab es zwei weitere Volksabstimmungen über Kernenergie.
    • Die Initiative „Stoppt den Bau von Kernkraftwerken“, die eine zehnjährige Wartefrist für den Bau neuer Kernkraftwerke vorschlug, war mit 54,5 % erfolgreich.
    • Die Initiative für einen Atomausstieg bekam 47,1 %, also keine Mehrheit.
  • 2000 wurde ein Referendum über die Einführung einer Ökosteuer durchgeführt, deren Aufkommen in die Förderung der Sonnenenergie fließen sollte. Dieses war erfolglos.
  • Zwei weitere Volksentscheide – am 18. Mai 2003 – wurden abgelehnt:
    • „Strom ohne Atom“ bat um einen Ausstieg (33,7 % dafür),
    • „Für längere Wartefristen“ sah eine Verlängerung der Wartefristen vor (41,6 % Zustimmung), die beim Referendum „Stoppt den Bau von Kernkraftwerken“ festgelegt worden waren.
  • Die Atomausstiegsinitiative sah die Abschaltung von Kernkraftwerken nach maximal 45 Jahren Betriebszeit vor. Diese wurde am 27. November 2016 mit 54,2 % und Ständemehr abgelehnt.

Die Initiative „Strom ohne Atom“ hatte vorgesehen, bis 2033 alle Kernkraftwerke zu schließen. Hierbei sollte mit den beiden Reaktoren in Beznau begonnen werden; Mühleberg sollte 2005 folgen, Gösgen 2009 und Leibstadt im Jahr 2014. „Für längere Wartefristen“ plante eine Anhebung der Wartefristen um weitere zehn Jahre und zusätzlich eine Bedingung, die aktuellen Reaktoren nach einer Gesamtlaufzeit von vierzig Jahren zu schließen. Um genau diese vierzig Jahre um weitere zehn Jahre zu verlängern, wäre eine erneute Volksabstimmung notwendig. Das Scheitern von „Für längere Wartefristen“ war für viele sehr überraschend, da zuvor durchgeführte Meinungsumfragen eher das Gegenteil voraussagten. Die zum Zeitpunkt des Volksentscheids (Mai 2003) verschlechterte Wirtschaftslage der Schweiz wurde vielfach als Hauptgrund für die Ablehnung beider Initiativen betrachtet.

Da die Kernkraftwerke Beznau und Mühleberg ihre damals geplante Laufzeit in den nächsten Jahren erreichen würden, wurde über den Neubau zweier neuen Kernkraftwerke nachgedacht. Der Schweizer Energieversorger Atel favorisierte die Standorte Gösgen und Beznau und gab die Gründung einer Planungsgesellschaft für zwei Reaktoren mit einer Leistung von je 1.600 MW bekannt. Am 10. Juni 2008 hatte die Aare-Tessin AG für Elektrizität beim Bundesamt für Energie (BFE) ein Gesuch um eine Rahmenbewilligung für ein zweites Kernkraftwerk in Gösgen eingereicht, das Kernkraftwerk Niederamt heißen sollte. Dieses sollte ab 2025 Strom liefern.[6]

Wegen der niedrigen Börsenstrompreise in Europa ist die Ertragslage seit 2012 für die Schweizer Kraftwerksbetreiber generell schwierig; die Axpo Holding und Alpiq Holding schreiben mit ihren Kernkraftwerken Verluste, da die Gestehungskosten je kWh über den zu erzielenden Preisen liegen.[7]

Am 21. Mai 2017 stimmte die Schweizer Bevölkerung der Energiestrategie 2050 mit 58,2 % Ja-Stimmen zu.[8] Dies hat zur Folge, dass der Bau neuer Atomkraftwerke verboten ist. Des Weiteren sollen erneuerbare Energien und die effizientere Nutzung von Energie gefördert werden.

Am 20. Dezember 2019 wurde mit dem Kernkraftwerk Mühleberg das erste kommerzielle Kernkraftwerk der Schweiz endgültig vom Netz genommen.[9]

Atomausstieg

Am 30. November 2008 stimmten 76,4 Prozent der Abstimmenden der Stadt Zürich für einen Ausstieg aus der Kernenergie. In der Gemeindeordnung wird festgehalten, dass die Stadt sich an keinen Neubauten von Atomkraftwerken beteiligen darf und auf neue Bezugsrechte von Atomstrom verzichtet. Die Beteiligung am AKW Gösgen wird 2039 enden.[10]

Am 25. Mai 2011 gab der Schweizer Bundesrat bekannt, dass er sich für einen langfristigen Atomausstieg entschieden hat. Die derzeitigen Atomkraftwerke sollen bis zum Ende ihrer Betriebsdauer bestehen bleiben, danach jedoch nicht ersetzt werden. Das relativ jüngste Atomkraftwerk in Leibstadt würde, bei der Annahme einer Betriebsdauer von 50 Jahren, 2034 abgeschaltet.[11] Im September 2011 stimmte auch der Ständerat dem Ausstiegsbeschluss zu. Auch soll der Bau neuer Kernkraftwerke verboten werden.[12] Näheres siehe Schweizer Energiepolitik.

Die „Dokumentationsstelle Atomfreie Schweiz“[13] möchte ab 2015 den regionalen und nationalen Widerstand gegen AKW dokumentieren; ihr Kurator wird der Schweizer Liedermacher, Anti-Atom-Aktivist und langjährige Geschäftsführer des Trinationalen Atomschutzverband/TRAS und der Initiative Nie wieder Atomkraftwerke/NWA, Aernschd Born.

Eine im November 2015 veröffentlichte Studie der Universität St. Gallen erhob in der Ostschweiz eine Ablehnung von 77 Prozent zum Neubau eines Atomkraftwerks.[14]

Am 18. Dezember 2015 hatte die BKW die Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg beschlossen. Am 20. Dezember 2019 wurde Mühleberg endgültig heruntergefahren und befindet sich im Rückbau.[9]

Atommüll

Im Bundesbeschluss zum schweizerischen Atomgesetz vom 6. Oktober 1978 wurde die Gültigkeit von Betriebsbewilligungen für Kernkraftwerke nach dem Jahr 1985 vom Nachweis der sicheren Entsorgung abhängig gemacht. Der Bundesbeschluss war befristet bis zum Inkrafttreten eines neuen Atomgesetzes, jedoch längstens bis zum 31. Dezember 1983. Am 18. März 1983 wurde er bis Ende 1990 und am 22. Juni 1990 bis Ende 2000 verlängert. In der Botschaft an das Parlament vom März 2000 wurde die Änderung des Bundesbeschlusses und dessen erneute Verlängerung bis zum 31. Dezember 2010 beantragt und am 6. Oktober 2000 beschlossen.[15]

Die Schweiz hat seit Juni 1999 ein neues Gesetz zur Entsorgung radioaktiver Abfälle. Es legt fest, dass der Erzeuger radioaktiver Abfälle für die dauernde, sichere Entsorgung und Endlagerung bzw. Beseitigung verantwortlich ist.

In der Schweiz ist die Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) von den Verursachern radioaktiver Abfälle beauftragt, Lösungen für die Lagerung des Atommülls zu erarbeiten und zu realisieren. Seit 2001 werden verbrauchte Brennelemente und sonstige radioaktive Abfälle sukzessive ins Zwischenlager in Würenlingen transportiert.

Für die Endlagerung wird gegenwärtig Opalinuston als Wirtsgestein favorisiert. Atomgegner kritisieren als nicht nachvollziehbar, nachdem jahrelang eine Endlagerung in Granitgestein favorisiert wurde. Außerdem sei die Tonschicht sehr dünn und die Folgen von Wärmeentwicklung auf das Gestein nicht ausreichend untersucht.[16]

Im Felslabor Mont Terri wurden Bakterien und (an anderer Stelle) aus dem Meer stammende Salzwasser-Reste im Gestein gefunden, was seine Undurchlässigkeit laut Labor-Direktor Paul Bossart „nach spätestens 100'000 Jahren“ in Frage stellt. Es gibt aber Nuklide im Abfall, die wesentlich länger strahlen.[17]

Im September 2022 gab die Nagra bekannt, dass sie das Haberstal in Windlach als Endlager-Standort vorschlägt und bis in zwei Jahren das Rahmenbewilligungsgesuch ausarbeiten und beim Bund einreichen will.

Folgekosten

Eine 2016 von SwissNuclear im Auftrag der Kommission für den Stilllegungsfonds und den Entsorgungsfonds durchgeführte Kostenstudie bezifferte die Kosten für die Stilllegung der Kernkraftwerke und die Endlagerung der radioaktiven Abfälle auf 22,8 Mrd. Franken. Eine 2017 durchgeführte Überprüfung dieser Studie durch unabhängige Forscher kam auf eine etwas höhere Summe von 23,5 Mrd. Franken.[18] Im Dezember 2020 wurde kommuniziert, dass die voraussichtlichen Gesamtkosten 23,9 Mrd. betragen, wovon der grösste Teil auf die Entsorgungskosten entfällt.[19]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Strommix und Energiemix – Energie-Umwelt.ch. Abgerufen am 7. November 2020.
  2. Überblick über den Energieverbrauch der Schweiz im Jahr 2019. (PDF; 719 KB) In: admin.ch. Bundesamt für Energie, 1. Juni 2020, abgerufen am 7. November 2020.
  3. www.swissvotes.ch
  4. 1'427'056 von 3'876'719
  5. [ https://www.sudd.ch/event.php?id=ch061979 Datenbank und Suchmaschine für direkte Demokratie]
  6. Konkretes Begehren für ein zweites Kernkraftwerk Gösgen. auf: NZZ online. 11. Juni 2008 (Internet Archive)
  7. siehe auch ststista.de: Durchschnittlicher Strompreis für Haushalte* in der Schweiz in den Jahren 2012 bis 2022
  8. Vorlage Nr. 612. Schweizerische Bundeskanzlei, 21. Mai 2017, abgerufen am 21. Mai 2017.
  9. a b Das AKW Mühleberg war einmal. nzz.ch, 20. Dezember 2019, abgerufen am 20. Dezember 2019.
  10. Stadt Zürich macht Ernst mit dem Atomausstieg. Überraschend deutliches Ja zur energiepolitischen Vorlage. In: Neue Zürcher Zeitung. 1. Dezember 2008.
  11. Bundesrat entschliesst Atomausstieg. wirtschaft.ch, 25. Mai 2011, abgerufen am 25. Mai 2011.
  12. Ständerat sagt Ja zum Atomausstieg. In: NZZ. 28. September 2011. Abgerufen am 28. September 2011.
  13. atomfrei.ch
  14. Befragung der Anwohner von möglichen Windparks in der Ostschweiz, Institut für Wirtschaft und Ökologie der Universität St. Gallen, November 2015
  15. die Schweiz verschiebt ihr Atomgesetz seit 30 Jahren (PDF; 36 kB)
  16. www.global2000.at: Atomkraft in der Schweiz (Memento vom 10. November 2010 im Internet Archive)
  17. Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung, Nr. 1, 2010.
  18. AKW-Stilllegung kostet über 23 Milliarden Franken. In: Handelszeitung. Abgerufen am 27. Dezember 2017.
  19. Kosten für Stilllegung und Entsorgung neu festgelegt. In: stenfo.ch. 4. Dezember 2020, abgerufen am 5. Dezember 2020.