Stochastische Integration

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Die Theorie der stochastischen Integration befasst sich mit Integralen und Differentialgleichungen in der Stochastik. Sie verallgemeinert die Integralbegriffe von Henri Léon Lebesgue und Thomas Jean Stieltjes auf eine breitere Menge von Integratoren. Es sind stochastische Prozesse mit unendlicher Variation, insbesondere der Wiener-Prozess, als Integratoren zugelassen. Die Theorie der stochastischen Integration stellt dabei die Grundlage der stochastischen Analysis dar, deren Anwendungen sich zumeist mit der Untersuchung stochastischer Differentialgleichungen beschäftigen.

Stochastische Integration

Es existieren verschiedene stochastische Integralbegriffe.

Generell um ein stochastisches Integral zu konstruieren, muss der Integrand gewisse Kriterien der Messbarkeit und Integrierbarkeit erfüllen. Sei hier der Raum der -adaptierten, stetigen lokalen Martingale mit . Für definiert man den L2-Hilbert-Raum der Äquivalenzklassen von , wobei für durch

definiert ist (die Norm wird durch induziert). Die richtige Wahl der Integranden sind die -integrierbaren progressiv-messbaren .[1]

Integralbegriff nach Wiener

Sei der klassische Wiener-Raum ausgestattet mit dem Wiener-Maß . Sei ein Funktional auf , dann nennt man

Wiener-Integral.[2][3]

Integralbegriffe nach Itō und Stratonowitsch

Seien zwei (nicht notwendigerweise unabhängige) reellwertige stochastische Prozesse auf einem gemeinsamen Wahrscheinlichkeitsraum . Als Itō-Integral (nach Itō Kiyoshi) von nach über dem Intervall bezeichnet man die Zufallsvariable

Das zugehörige Stratonowitsch-Integral oder Fisk-Stratonowitsch-Integral (nach Ruslan Leontjewitsch Stratonowitsch und Donald Fisk) berechnet sich für dieselbe Wahl von als

Beim Itō-Integral wird der Integrand also stets am Anfang des -Intervalls ausgewertet, bei Stratonowitsch werden der Anfangs- und Endwert gemittelt. Bei gewöhnlichen (Riemann- oder Lebesgue-) Integralen von deterministischen (nicht zufälligen) und hinreichend glatten (beispielsweise stetigen) Funktionen hat dies keinen Einfluss auf das Ergebnis, doch im stochastischen Fall gilt: Sind und nicht unabhängig, so kann das tatsächlich zu verschiedenen Werten führen (siehe Beispiel unten).

Als Klasse der möglichen Integratoren werden in der allgemeinsten Formulierung Semimartingale zugelassen, die Integranden sind vorhersagbare Prozesse.

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Eine Brownsche Bewegung und das Integral von

Integralbegriff nach Hitsuda-Skorokhod

Eine Erweiterung des Itō-Integrals auf nicht-adaptierte Prozesse ist das Hitsuda-Skorokhod-Integral.[4] Das Integral wird definiert bezüglich der Adjungierten des Ableitungsoperator der Malliavin-Ableitung. Im Falle der Integrierbarkeit bezüglich der brownschen Bewegung und der Adaptierbarkeit des Integranden erhält man gerade das Itō-Integral.

Beispiel

Sei ein (Standard-)Wiener-Prozess. Zu berechnen ist das Itō-Integral . Schreibt man der Kürze halber und benutzt man die Identität

so erhält man aus obiger Integrationsvorschrift

Benutzt man nun einerseits, dass gilt, sowie andererseits die Eigenschaft, dass i.i.d. -verteilt ist (wegen der unabhängigen, normalverteilten Zuwächse der Brownschen Bewegung), so folgt mit dem Gesetz der großen Zahlen für den hinteren Grenzwert

Um das entsprechende Stratonowitsch-Integral zu berechnen, nutzt man die Stetigkeit der Brownschen Bewegung aus:

Itō- und Stratonowitsch-Integral über demselben Prozess führen also zu verschiedenen Ergebnissen, wobei das Stratonowitsch-Integral eher der intuitiven Ahnung aus der gewöhnlichen (deterministischen) Integralrechnung entspricht.

Martingaleigenschaft

Der bei weitem am häufigsten verwendete Integrator ist eine Brownsche Bewegung. Der entscheidende Vorteil, den das Stratonowitsch-Integral nicht hat und der letztendlich dazu führte, dass sich das Itō-Integral weitgehend als Standard durchgesetzt hat, ist die folgende Eigenschaft:

Sei ein Lévy-Prozess mit konstantem Erwartungswert, eine nicht vorgreifende beschränkte Funktion von und (d. h., für jedes ist messbar bezüglich der σ-Algebra , die von den Zufallsvariablen erzeugt wird), so ist der Prozess
ein lokales Martingal bezüglich der natürlichen Filtrierung von . Unter zusätzlichen Beschränktheitsbedingungen ist der Integralprozess sogar ein Martingal.

Anwendung: Itō-Prozess

Ausgehend vom Itōschen Integralbegriff ist es nun möglich, eine breite Klasse von stochastischen Prozessen zu definieren: Demnach wird ein stochastischer Prozess mit Itō-Prozess genannt, wenn es eine Brownsche Bewegung mit und stochastische Prozesse , gibt mit

wobei angenommen wird, dass die beiden Integrale existieren.[5] In Differentialschreibweise wird diese Gleichung als

notiert. Ein Itō-Prozess kann also als verallgemeinerter Wiener-Prozess mit zufälligem Drift und Volatilität angesehen werden.

Das Prädikat „ ist ein Itō-Prozess“ wird somit zu einem stochastischen Pendant zum Begriff der Differenzierbarkeit. Ausgehend hiervon wurden dann von Itō selbst die ersten stochastischen Differentialgleichungen definiert.

Hängen der Driftkoeffizient und der Diffusionskoeffizient nicht von der Zeit ab, so spricht man von Itō-Diffusion – hängen sie zusätzlich von der Zeit ab, so liegt dagegen ein allgemeinerer Itō-Prozess vor.

Durch zahlreiche Anwendungen in der mathematischen Modellierung, insbesondere in der statistischen Physik und der Finanzmathematik, hat sich der Itō-Kalkül inzwischen zu einem unverzichtbaren mathematischen Werkzeug entwickelt.

Siehe auch

Literatur

  • J. Jacod, A. Shiryaev: Limit theorems for stochastic processes. Springer, Berlin.
  • P. Protter: Stochastic integrals and differential equations. Springer, Berlin.

Einzelnachweise

  1. Daniel Revuz und Marc Yor: Continuous Martingales and Brownian Motion. In: Springer (Hrsg.): Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. Band 293, 1999 (englisch).
  2. Alexandre Joel Chorin: Accurate Evaluation of Wiener Integrals. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Mathematics of Computation. Band 27, Nr. 121, 1973, S. 1–15.
  3. Norbert Wiener: Generalized harmonic analysis. In: Acta Math. Band 55, 1930, S. 117–258.
  4. A. V. Skorokhod: On a Generalization of a Stochastic Integral. In: Theory of Probability & Its Applications. Band 20, Nr. 2, 1976, S. 219–233, doi:10.1137/1120030.
  5. Hui-Hsiung Kuo: Introduction to Stochastic Integration. Springer, 2006, ISBN 978-0387-28720-1, S. 102 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).