Thüringer Oberlandesgericht
Das Thüringer Oberlandesgericht ist das Oberlandesgericht des Freistaats Thüringen mit Sitz in Jena und bildet die Spitze der Thüringer ordentlichen Gerichtsbarkeit. Präsidentin ist seit 2020 als erste Frau in diesem Amt Astrid Baumann.
Gerichtssitz und -bezirk
Das Thüringer Oberlandesgericht hat seinen Sitz in Jena. Der Gerichtsbezirk entspricht dem Gebiet des Landes.
Im Bezirk des Oberlandesgerichts sind 1.936 Rechtsanwälte und Syndikusrechtsanwälte zugelassen (Stand: 1. Januar 2018).[1]
Geschichte
1816–1878
Die Stadt Jena hat als Ort der Rechtsprechung eine lange Tradition, die bis auf den 1558 von Kaiser Ferdinand I. gegründeten Schöppenstuhl zurückgeht.
Im Jahr 1816 gründeten die ernestinischen Länder ein gemeinsames Oberappellationsgericht, das aufgrund eines Staatsvertrags der Staaten Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg und Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie im Rahmen des reicheinheitlichen Gerichtsverfassungsgesetzes zum 1. Oktober 1878 als gemeinsames Oberlandesgericht fortgeführt wurde.
1878–1923
Carl Heinrich Ferdinand Streichhan entwarf den Neubau für das Oberlandesgericht an der späteren August-Bebel-Straße, der 1880 bezogen werden konnte. Die Bauleitung hatte Otto Minkert.
Die fünf Amtsgerichte des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen, in der Unterherrschaft Amtsgericht Sondershausen, Amtsgericht Ebeleben und Amtsgericht Greußen sowie in der Oberherrschaft Amtsgericht Arnstadt und Amtsgericht Gehren wurden im Instanzenzug dem preußischen Landgericht Erfurt und dem Oberlandesgericht Naumburg nachgeordnet.[2]
Nach der Gründung des Volksstaates Reuß wurde mit Erlass vom 11. Juli 1919 betreffend die Abänderung des Staatsvertrags über die Fortdauer der Landgerichtsgemeinschaft in Gera das bis dahin bestehende Landgericht Greiz des Fürstentums Reuß ältere Linie aufgelöst und der Landgerichtsbezirk mit den Amtsgerichten Burgk, Greiz und Zeulenroda dem Landgerichtsbezirk Gera zugewiesen. Beim Amtsgericht Greiz verblieb eine Strafkammer und es wurde eine Kammer für Handelssachen eingerichtet. Mit der Vereinigung des Freistaates Coburg mit dem Freistaat Bayern, die durch das Reichsgesetz vom 30. April 1920 mit Wirkung vom 1. Juli 1920 vollzogen wurde, schieden in der Folge auch die Coburger Amtsgerichte aus der Landgerichtsgemeinschaft Meiningen aus. Dieses Ausscheiden wurde in einem Staatsvertrag zwischen Preußen, Thüringen und Bayern mit Wirkung vom 1. April 1921 rechtskräftig.[3] Ab 1922 war William Oberländer als Generalstaatsanwalt tätig.
1923–1944
Nach dem Zusammenschluss der verschiedenen thüringischen Kleinstaaten und der Vereinigung des Coburger Landesteils mit dem Freistaat Bayern wurde nach einiger Zeit auch die Gerichtsorganisation in Thüringen neu strukturiert. Mit dem Gesetz über die Sitze und Bezirke der ordentlichen Gerichte im Lande Thüringen vom 15. Juni 1923 wurde folgende Struktur beschlossen:[4]
Die Amtsgerichte in Sondershausen, Ebeleben und Greußen blieben bei dem Landgericht Erfurt.
Mit Gesetz vom 28. Mai 1934 wurde im Landgerichtsbezirk Gera zusätzlich das Amtsgericht Triebes eingerichtet.[5]
1944
Mit Erlaß zur Änderung von Oberlandesgerichtsbezirken vom 20. Juli 1944 wurden die Landgerichtsbezirke Nordhausen und Erfurt, die bis dahin dem OLG Naumburg zugewiesen waren, dem OLG-Bezirk Jena zugeteilt. Vom LG-Bezirk Nordhausen wurden zugleich die Amtsgerichte in Artern, Heringen, Kelbra, Roßla, Sangerhausen und Stolberg dem Landgericht Halle zugeteilt.[6] Vorausgegangen war dieser Änderung ein Führererlass vom 1. April 1944, der die bis dahin bestehende preußische Provinz Sachsen in die Provinzen Magdeburg und Halle-Merseburg aufgliederte. Der bis dahin auch zur Provinz Sachsen gehörende Regierungsbezirk Erfurt wurde unter Verwaltung des Reichsstatthalters von Thüringen gestellt.[7]
1945–1952
In der kurzen Zeit der amerikanischen Besetzung Jenas nach Kriegsende wurde der Gerichtsbetrieb am Oberlandesgericht ausgesetzt. Nach dem Besatzungswechsel Anfang Juli 1945 wurde das Gerichtsgebäude von sowjetischen Truppen requiriert und der Aktenbestand seitens der sowjetischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und separiert. Der Befehl Nr. 49 der SMAD vom 4. September 1945 forderte außer der Wiederaufnahme des vollumfänglichen Geschäftsbetriebes aller Gerichte und Staatsanwaltschaften zum 30. September 1945 auch die Entfernung sämtlichen Mitglieder der NSDAP und faschistischer Organisationen aus dem Apparat der Gerichte und Staatsanwaltschaften, was zu massenhaften Entlassungen führte. Zuvor hatte am 7. August 1945 der amtierende Landespräsident Rudolf Paul eine Verlegung des Gerichtes nach Gera erlassen, welche am 13. August 1945 von der Thüringer Landesverwaltung nachträglich gebilligt wurde. Die sofort vollzogene Verlegung geschah in Unkenntnis der Jenaer Stadtverwaltung, aber auch der sowjetischen Militäradministration in Thüringen (SMATh). Bereits am 28. August 1945 wurde daraufhin der bis dahin amtierende Landgerichtspräsident von Gera, Dr. Arno Barth, in sein Amt als neuer OLG-Präsident eingeführt. Eindringliche Proteste der Jenaer Stadtverwaltung fruchteten ebenso wenig wie die Pläne der SMATh, die per Befehl Nr. vom 15. September 1945 Weimar als neuen Standort ausersehen hatte. Hintergrund dieser Überlegungen war offensichtlich die Konzentration von Landesregierung und Militärregierung, die bereits in Weimar saßen, sowie der Obersten Gerichtsbehörde an einem Standort. Aber auch diese Pläne konnte Paul, der vor seiner Ernennung zum Landespräsidenten kurzzeitig Oberbürgermeister von Gera war, erfolgreich abwehren. Die Existenz des OLG in Gera währte indes nur bis 1950, als es nach Erfurt verlegt wurde.[8]
Das Oberlandesgericht trat in Strafsachen als Revisionsgericht an die Stelle des Reichsgerichts.[9] Ab 1947 war es auch Kassationsgericht,[10] bevor 1949 das Oberste Gericht der DDR gegründet wurde, welches diese Funktion sowohl in Straf- als auch Zivilsachen übernahm.[11] Bis dahin gab es kein Gericht über dem Oberlandesgericht.[12]
Im Zuge der Justizreform der DDR[13] wurde das Gericht 1952 aufgelöst.
Seit 1990
Nach dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990 mussten sich die zukünftigen Länder, so auch Thüringen, verpflichten, die im Gerichtsverfassungsrecht der Bundesrepublik vorgesehenen Gerichtsbarkeiten und Gerichtsstrukturen einzurichten, sobald die dafür notwendigen personellen und sachlichen Voraussetzungen geschaffen waren. Im Hinblick darauf hatte die Justizministerkonferenz schon auf ihrer Tagung vom 28.–31. Mai 1990 eine Regionalisierung beim Wiederaufbau der Rechtspflege in den zukünftigen Ländern beschlossen. Für Thüringen wurden die Länder Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz zuständig, wobei Rheinland-Pfalz mit Ausnahme des Bezirks des Bezirksgerichtes Suhl in Meiningen 1990 sich für den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig zeichnete. In der Folge kamen zahlreiche Juristen aus Rheinland-Pfalz nach Thüringen und wurden zum Beispiel mit der Amtsführung der Bezirksgerichte betraut. Das Bezirksgericht Erfurt wurde dabei von Hans-Joachim Bauer, bis dahin Präsident des Landgerichts Kaiserslautern, nunmehr als Präsident geführt. Unter seiner Federführung wurden in Zusammenarbeit mit dem neuen Thüringer Justizministerium die anstehenden Aufgaben, die zu einer modernen Rechtspflege führen sollten, geplant und in Auftrag gegeben. Damit konzentrierten sich zunächst in Erfurt die leitenden Funktionen der Ordentlichen Gerichtsbarkeit. Im Sommer 1991 begann das Justizministerium sich mit den Fragen zur Überführung der vorhandenen Gerichte in den vierstufigen Aufbau des Gerichtsverfassungsgesetzes zu befassen. Dazu erschien im Juni 1991 eine Studie zu den zukünftigen Gerichtsstandorten, nach welcher neben einem weiteren, vierten, Landgericht in Mühlhausen das zukünftige Thüringer Oberlandesgericht und die Generalstaatsanwaltschaft in Jena eingerichtet werden sollten. Da bis dahin aber die gesamte Aufbauarbeit in Erfurt geleistet wurde, gab es nicht unerhebliche Vorbehalte gegen diesen quasi völlig neuen Standort, vor allem wegen dann notwendiger Umzüge von in Erfurt ausgebildetem Personal nach Jena. In Anknüpfung an die Tradition des alten Oberlandesgerichtes und seine langjährige Geschichte in Jena sowie die traditionelle Nähe zur renommierten Jenaer Universität wurde dem Votum des damaligen Justizministers Hans-Joachim Jentsch für Jena justizintern aber entsprochen, allerdings zunächst als interne Entscheidung behandelt und nicht der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Gesetzesentwurf für diese Standortwahl wurde jedoch erst im Sommer 1992 ausgearbeitet und veröffentlicht. Dabei gerieten die Standortdiskussionen über den Sitz der Gerichte auch in die allgemeine Diskussion zu einer großen kommunalen Gebietsreform, bei der Gerichtsstandorte auch als Kompensationsmittel für verlustig gegangene Verwaltungsbehörden in einzelnen Kommunen behandelt wurden und sich dementsprechend verzögerten. Die justizintern getroffene Standortwahl sah allerdings einen Planungsrahmen bis zum Jahresende 1993 vor. Dementsprechend wurde schon im Sommer 1991 die Verwaltungsabteilung des neuen Oberlandesgerichtes am Bezirksgericht Erfurt gebildet und dafür ein Aufbaustab OLG Jena eingerichtet. Mit Unterstützung des Pfälzischen Oberlandesgerichtes Zweibrücken wurde dabei eingestelltes Personal ausgebildet, auch im Rahmen von dreimonatigen Ausbildungen in der Verwaltungsabteilung des OLG Zweibrücken. Probleme bereitete in Jena vor allem das Gebäude des zukünftigen OLG. Da das alte Gerichtsgebäude in der August-Bebel-Straße zu DDR-Zeiten von der Jenaer Universität genutzt wurde, waren vor allem vermögensrechtliche Fragen im Weg, um das Gebäude wieder dem Justizministerium übergeben zu können. Trotz der Überzeugung damaliger Beschäftigter, wieder in das alte Gebäude ziehen zu können, erfüllte sich dieser Wunsch nicht. Das OLG zog zunächst in das Bürohochhaus Bau 59 der Jenoptik am Leutragraben 2–4, wo es zusammen mit der Generalstaatsanwaltschaft vier Etagen belegte. Am 16. Juli 1993 wurde mit dem im Thüringer Landtag beschlossenen Thüringer Gerichtsstandortgesetz auch der rechtliche Rahmen für den OLG-Standort Jena verabschiedet, so dass das OLG zum 1. September 1993 wieder eingerichtet wurde. Der als vorläufiges Provisorium gedachte Standort im Hochhaus hielt sich schlussendlich über 10 Jahre bis 2004, als das OLG zusammen mit anderen Behörden in das neu errichtete Justizzentrum in der Rathenaustraße 13 umzog. Präsidentin des Oberlandesgerichts ist seit dem 1. September 2020 Astrid Baumann. Damit steht erstmals eine Frau an der Spitze dieses Gerichts.
Gerichtsgebäude
Das Gericht ist im 2004 errichteten Gebäudekomplex Rathenaustraße 13 in Jena untergebracht, in demselben Anwesen wie die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft, Teile des Amtsgerichts Jena und andere Justizbehörden (Justizzentrum Jena).
Leitung
- ab 1879: Julius von Egloffstein, erster Thüringer Oberlandesgerichtspräsident
- Karl von Brüger
- Carl Blomeyer
- Viktor Börngen
- 1917–1925: Alexander Stichling
- 1925–1945: Bruno Becker
- 1945–1949: Arno Barth
- 18. Oktober 1993–30. Juni 2006: Hans-Joachin Bauer, * 22. Juni 1941
- 14. Oktober 2006–September 2018: Stefan Kaufmann[14]
- Seit 1. September 2020: Astrid Baumann, als erste Frau in diesem Amt[15]
Über- und nachgeordnete Gerichte
Dem Oberlandesgericht ist als einziges Gericht der Bundesgerichtshof übergeordnet; nachgeordnet sind die vier Landgerichte Thüringens in Gera, Erfurt, Meiningen und Mühlhausen mit den jeweils diesen nachgeordneten 23 Amtsgerichten.
Richter
- Anton Fürbringer (ab 1867), Inhaber der nichtakademischen Ratsstelle
- Bruno Becker (1925–1945)
- Karl von Brüger (1822–1905), Präsident des gemeinschaftlichen Oberlandesgerichts der thüringischen Staaten, Ehrenbürger von Jena
- Matthias Knauff (* 1978), Rechtswissenschaftler, Hochschullehrer und Richter
Siehe auch
Literatur
- Hans-Joachim Bauer, Olaf Werner (Hrsg.): Festschrift zur Wiedererrichtung des Oberlandesgerichts in Jena. Beck, München 1994, ISBN 3-406-37968-0.
Weblinks
- Internetpräsenz des Thüringer Oberlandesgerichts
- Infos über das Gebäude
- Übersicht der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Jena
Einzelnachweise
- ↑ Bundesrechtsanwaltskammer, www.brak.de: Große Mitgliederstatistik zum 01.01.2018. (PDF; 37,3 kB) Abgerufen am 5. September 2018.
- ↑ Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1991, ISBN 3-7400-0077-5, S. 195.
- ↑ Gesetzessammlung für Thüringen Nr. 11 von 1921 S. 69.
- ↑ Gesetzessammlung von Thüringen 1923 S. 476.
- ↑ Gesetzessammlung für Thüringen Nr. 21 1934 S. 93.
- ↑ RGBl. Nr. 34 von 1944 S. 164
- ↑ RGBl. Nr. 20 von 1944 S. 110f
- ↑ Gesetz betreffend die Änderung von Gerichtsbezirken im Lande Thüringen vom 19. Mai 1949 (Reg.-Bl. I S. 32).
- ↑ Gesetz über die Anwendung des Gerichtsverfassungsgesetzes in dem Lande Thüringen vom 5. Dezember 1945 (Reg.-Bl. 1946 I S. 1), Art. IV § 120 (vgl. § 135 GVG in der Fassung von 1924)
- ↑ Gesetz über die Kassation rechtskräftiger Urteile in Strafsachen vom 10. Oktober 1947 (RegBl. I S. 81)
- ↑ Gesetz über die Errichtung des Obersten Gerichtshofes und der Obersten Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 8. Dezember 1949 (GBl. Nr. 16 S. 111), Abschnitt III
- ↑ siehe auch Rechtsverordnung zur vorläufigen Überleitung der bürgerlichen Rechtspflege auf den Friedensstand vom 24. Oktober 1945 (Reg-Bl. I S. 50), § 24
- ↑ Gesetz über die Verfassung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik (Gerichtsverfassungsgesetz) (Memento vom 9. Juli 2018 im Internet Archive) vom 2. Oktober 1952 (GBl. Nr. 141 S. 983)
- ↑ Dr. h.c. Stefan KaufmannFriedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg Fachbereich Rechtswissenschaft, abgerufen am 30. September 2020
- ↑ Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz: Astrid Baumann ist die neue Präsidentin des Thüringer Oberlandesgerichts. Abgerufen am 29. Januar 2021.
Koordinaten: 50° 55′ 20″ N, 11° 34′ 46″ O