Samuel Agnon

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Samuel Agnon (1966)

Samuel Joseph Agnon (hebräisch שמואל יוסף עגנון Schemu'el Josef Agnon, auch Shai Agnon, eigentlich Samuel Josef Czaczkes; * 17. Juli 1888 in Butschatsch, Galizien; † 17. Februar 1970 in Rechovot, Israel) war ein hebräischer Schriftsteller. Seine Werke spiegeln eine tiefe Verwurzelung in den religiösen und geistigen Traditionen der Chassidim und dem Alltag des Ostjudentums wider und sind in ihrer Darstellung von Angst und Schutzlosigkeit den Arbeiten von Kafka vergleichbar. 1966 erhielt er zusammen mit Nelly Sachs als erster hebräischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur „für seine tiefgründige charakteristische Erzählkunst mit Motiven aus dem jüdischen Volk.“

Leben und Werk

Agnon wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmanns- und Schriftgelehrtenfamilie in Galizien auf, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Sein Vater Mordechai Czaczkes war Pelzhändler und chassidischer Rabbiner, und der Sohn erhielt durch ihn und die Talmudschule die klassische jüdische Gelehrtenausbildung; über seine Mutter Esther, eine gebildete Frau, lernte er die deutsche Literatur kennen. Erste Gedichte, geschrieben auf Jiddisch und Hebräisch, veröffentlichte Agnon mit 15 Jahren in lokalen Zeitungen. Er besuchte vorübergehend ein Lehrerseminar und arbeitete mit 18 Jahren bei einer Zeitung in Lemberg. Bereits früh hatte er sich der zionistischen Bewegung angeschlossen und übersiedelte mit Zwischenaufenthalten in Krakau und Wien als Teilnehmer der zweiten jüdischen Immigrationswelle (Alija) nach Palästina, wo er sich im Mai 1908 niederließ.[1]

Zunächst lebte Agnon in Jaffa und arbeitete als Sekretär bei verschiedenen Organisationen, u. a. einem Verein für Rechtshilfe und dem jüdischen Rat. Seine erste Erzählung Agunot (1908, „verlassene Frau“), die er erstmals unter dem Pseudonym Agnon – „der Gebundene“ – veröffentlichte, stieß auf positive Resonanz. Sein Pseudonym nahm der Schriftsteller 1924 als offiziellen Nachnamen an.

1913 reiste Agnon über Wien nach Deutschland, wo er zunächst durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges an einer Heimreise gehindert war. In Berlin „lebte er während des Ersten Weltkrieges großteils von seiner Arbeit als literarischer Ratgeber des »Jüdischen Verlags« des Dr. Aron Eliasberg, der Agnon besonders gern hatte“.[2] In dieser Zeit erschien auch Agnons erstes aus dem Hebräischen ins Deutsche übesetztes Buch Und das Krumme wird gerade, übersetzt von Max Strauß.

Agnon lebte bis 1921 in Berlin, wo er 1920 Esther Marx heiratete, mit der er zwei Kinder hatte, eine Tochter und einen Sohn. Er lernte hier auch den jüdischen Kaufmann und Verleger Salman Schocken kennen, den späteren Herausgeber der Zeitung Haaretz, der ihn finanziell förderte und seine Arbeiten verlegte. Agnon lebte frei von materiellen Sorgen als Schriftsteller und Herausgeber und schrieb zahlreiche Erzählungen. Er unterstützte die Gründung der Zeitschrift Der Jude und sammelte alte hebräische Bücher. In seiner Zeit in Deutschland hielt er sich auch in Leipzig auf. In seinem Roman Herrn Lublins Laden hat er der Stadt und den dort lebenden Juden ein Denkmal gesetzt.[3][4] Agnon gehörte auch zum Kreis um Martin Buber, dem er freundschaftlich verbunden war.

Von 1921 bis 1924 lebte Agnon mit seiner Familie in Bad Homburg, wo seit 1993 im Kurpark ein Denkmal an ihn erinnert.[5] Als am 5. Juni 1924 Agnons Haus in Bad Homburg mitsamt seiner aus 4000 hebräischen Büchern bestehenden Bibliothek und zahlreichen Manuskripten durch einen Brand zerstört wurde, kehrte die Familie nach Jerusalem zurück.[6] Dort wurden im Jahr 1929 ein weiteres Mal sein Besitz und seine Bücher vernichtet, diesmal bei Plünderungen durch Araber.

Agnon galt seit seiner Rückkehr nach Palästina als einer der wichtigsten Vertreter der modernen hebräischen Literatur. Ein wichtiger Meilenstein seiner Arbeit war der 1931 veröffentlichte Roman Hachnasat Kalla (deutsch Die Bräutigamssuche 1934, englisch The Bridal Canopy), der als eine Art „chassidischer Schelmenroman“ vom jüdischen Leben im Galizien des 19. Jahrhunderts erzählt; im Untertitel heißt es:

„Die Wunder des Chassid Rabbi Judel aus Brody und seiner drei züchtigen Töchter, wie auch die Größe unserer Brüder, der Kinder Israels, Im Reich des erhabenen [habsburgischen] Kaisers.“

Eine Reise in seine von Pogromen und Armut gezeichnete galizische Heimat im Jahr 1930 bildete die Grundlage für den 1939 veröffentlichten Roman Ore’ach Nata Lalun (dt. Nur wie ein Gast zur Nacht, 1964), in den Erinnerungen an die alte Zeit des jüdischen Schtetls und düstere Vorahnungen über das jüdische Schicksal einflossen.

Agnons Verleger Salman Schocken sorgte noch zu Beginn der 1930er Jahre für die Verbreitung seiner Arbeiten in deutscher Sprache. Als der Schocken-Verlag von den Nationalsozialisten geschlossen wurde, emigrierte er 1934 zunächst nach Tel Aviv, wo er sein Verlagshaus wiedereröffnete, und 1940 nach New York, wo er Agnons Werke auch dem englischsprachigen Lesepublikum zugänglich machte.

Weitere Romane und Erzählungen Agnons spielten in Palästina selbst. Als wichtigster gilt Etmol Schilschom (1945, dt. Gestern, vorgestern, 1969), der das Scheitern eines galizischen Einwanderers in Palästina zwischen 1907 und 1913 zum Thema hat, aber auch vom Holocaust und dessen Ende beeinflusst ist.

Neben seinen Romanen veröffentlichte Agnon jedes Jahr mehrere Erzählungen und Essays, meist in der Zeitung Haaretz.

Zahlreiche Preisverleihungen spiegeln Agnons literarisches Ansehen wider: 1934 erhielt er den erstmals verliehenen Bialik-Preis, den wichtigsten israelischen Literaturpreis, ein weiteres Mal 1950. Mehrere Ehrendoktorwürden internationaler Universitäten sowie die Ehrenbürgerschaft von Jerusalem (1962) folgten. 1954 und 1958 wurde er mit dem Israel-Preis ausgezeichnet. Sein Bild ist auf 50-Schekel-Scheinen abgebildet, welche vor dem 16. September 2014 gedruckt wurden[7].

Am 17. Februar 1970, vier Jahre nach der Verleihung des Nobelpreises, starb Agnon und wurde am Ölberg in Jerusalem beigesetzt. Seine Tochter gab postum noch zahlreiche zu Agnons Lebzeiten unveröffentlichte Werke heraus.

Einer der bekanntesten Übersetzer von Agnon war Karl Steinschneider (1900–1979)[8]. Der war seit 1933 verheiratet mit Kitty Marx (* 3. Januar 1905 in Königsberg (Preußen); † 15. November 2002 in Jerusalem), einer Nichte von Agnons Frau Esther Marx[9], die kurz vor ihrer Heirat nach Palästina eingewandert war.[10]

Werke

  • WeHaja heAkow leMischor, Novelle 1912 (dt. Und das Krumme wird gerade, 1918)
  • Das Buch von den polnischen Juden 1916 (hg. von Agnon und Ahron Eliasberg)
  • haNidach, Novelle 1923 (dt. Der Verstoßene, 1923)
  • Die Erzählung vom Toraschreiber 1923
  • Hachnasat Kalla, Roman 1929/30 (dt. Bräutigamssuche, 1934)
  • In der Gemeinschaft der Frommen, Erzählungen 1935
  • Sippur Paschut, Roman 1935 (dt. Eine einfache Geschichte, 1967)
  • Ore'ach Nata Lalun, Roman 1939 (dt. Nur wie ein Gast zur Nacht, 1964)
  • Sefer haMa'asim, Sammlung von Erzählungen 1942 (dt. Das Buch der Taten 1995, 1998)
  • Tmol Schilschom, Roman 1945 (dt. Gestern, vorgestern, 1969)
  • Schnei Talmidei Chachamim Schehaju be-Ireinu, Erzählung 1951 (dt. Zwei Gelehrte, die in unserer Stadt lebten, 1966)
  • Tehilla, Erzählung 1952 (dt. Tilli, 1960)
  • Der Treueschwur, Erzählung 1965
  • Im Herzen der Meere und andere Erzählungen 1966
  • Liebe und Trennung, Erzählungen 1996
  • Herrn Lublins Laden, Roman 1974, deutsch 1993
  • Schira, Roman 1998 (deutsche Übersetzung von Tuvia Rübner)[11]
  • In der Mitte ihres Lebens, Novelle 1921, deutsch 2014 (aus dem Hebräischen von Gerold Necker)

Literatur

  • Amos Oz: Das Schweigen des Himmels: über Samuel J. Agnon. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-633-54147-0.
  • Gerold Necker: Schira. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 5: Pr–Sy. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, ISBN 978-3-476-02505-0, S. 358–366.

Weblinks

Commons: Samuel Agnon – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Mordecai Naor: Eretz Israel, Könemann, Köln, 1998, ISBN 3-89508-594-4, Seite 39
  2. Gershom Scholem: Agnon in Deutschland. Erinnerungen, in: Gershom Scholem: Poetica. Schriften zur Literatur Übersetzungen Gedichte, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-633-54292-5, S. 478. Ahron Eliasberg war seit Oktober 1911 Leiter des Jüdischen Verlags. (Anatol Schenker: Der Jüdische Verlag 1902-1938. Zwischen Aufbruch, Blüte und Vernichtung, Niemeyer, Tübingen 2003, ISBN 3-484-65141-5, S. 134 f.)
  3. Schmu'el Josef Agnon: Herrn Lublins Laden. Gustav Kiepenheuer, Leipzig 1993.
  4. Clara Ehrenwerth: Bildungslücke - Folge 7 - Schmu'el Josef Agnons Herrn Lublins Laden (1974). In: kreuzer online. (Stadtmagazin Leipzig), 9. April 2019, abgerufen am 16. Mai 2021.
  5. Denkmäler in Bad Homburg: Das Agnon Denkmal
  6. Zentrum hebräischer Literatur In: FAZ vom 13. November 2010, Seite 59
  7. Israel’s new banknotes - The next generation of money. In: בנק ישראל. Abgerufen am 3. Mai 2016.
  8. Karl Steinschneider im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  9. Walter Benjamin, Gershom Scholem: ARCHIVIO E CAMERA OSCURA; CARTEGGIO 1932-1940, Adelphi, 2020 (E-Book), ISBN 978-88-459-8214-9, Kapitel 12, Anmerkung 1
  10. Friedrich Niewöhner: Wahrstes Gefühl. Kitty Steinschneider und Gershom Scholem, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. November 2002, S. 39
  11. Amos Oz’ autobiographischem Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis zufolge wird in diesem Roman sein Großonkel, der jüdische Literaturwissenschaftler, Historiker und Religionswissenschaftler Joseph Klausner, dessen Haus in Talpiot (einem Stadtteil von Jerusalem) direkt gegenüber dem von Agnon stand, „[…] in der lächerlichen Gestalt des Professor Bachlam […]“ karikiert.