Wolfgang Ischinger

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Wolfgang Ischinger (2020)

Wolfgang Friedrich Ischinger (* 6. April 1946 in Beuren) ist ein deutscher Jurist und Diplomat. Er war Staatssekretär im Auswärtigen Amt sowie Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Washington, D.C. und London. Von 2008 bis 2022 leitete er als Nachfolger von Horst Teltschik die Münchner Sicherheitskonferenz.

Leben

Schule und Studium

Ischinger wurde in Beuren, im damaligen Landkreis Nürtingen, etwa 45 km südöstlich von Stuttgart, geboren. Sein Vater Karl war Notar in Stuttgart. Der mütterliche Großvater August Pfänder war lange Jahre Bürgermeister von Nürtingen.[1]

Das Schuljahr 1963/64 verbrachte Ischinger als Austauschschüler des American Field Service in Watseka, Illinois, und erlangte dort 1964 sein High School Diploma. Nach dem Abitur in Nürtingen und dem Studium der Rechtswissenschaften (1966–1972) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Erstes juristisches Staatsexamen 1972) und der Universität Genf (DAAD-Stipendium 1967) studierte er 1972/73, ebenfalls als DAAD-Stipendiat, Völkerrecht, Internationale Wirtschaftsbeziehungen und Zeitgeschichte an der Fletcher School of Law and Diplomacy (M.A. 1973) in Medford, Massachusetts, und der Harvard Law School in Cambridge, Massachusetts.[2]

Auswärtiger Dienst

Von 1973 bis 1975 war er als Mitarbeiter im Kabinett des UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim in New York tätig.[3]

1975 trat er in den Auswärtigen Dienst in Bonn ein, zunächst zuständig für Politische Planung. 1978 war er Absolvent des „Young-Leader-Programms“ beim American Council on Germany (ACG). In den folgenden Jahren war er unter anderem in den Botschaften in Washington, D.C. (1979–1982) und Paris (1990–1993) tätig, zuletzt als Gesandter-Botschaftsrat und Leiter der Politischen Abteilung.[4] Von 1982 bis 1990 war er erst Persönlicher Referent und später Leiter des Parlaments- und Kabinettsreferats des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP). Im Oktober 1989 begleitete er einen Zug, mit dem DDR-Flüchtlinge aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik gebracht wurden.[5]

Von 1993 bis 1995 war Ischinger Chef des Planungsstabs und von 1995 bis 1998 als Ministerialdirektor Leiter der Politischen Abteilung (Politischer Direktor) im Auswärtigen Amt in Bonn. Von 1998 bis 2001 war er unter Bundesaußenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) beamteter Staatssekretär. Von 2001 bis 2006 amtierte er als Nachfolger Jürgen Chrobogs als Deutscher Botschafter in den Vereinigten Staaten von Amerika; sein Nachfolger war Klaus Scharioth. Von März 2006 bis Ende April 2008 fungierte Ischinger als Nachfolger von Thomas Matussek als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland im Vereinigten Königreich; sein Nachfolger wurde Georg Boomgaarden.[3]

Münchner Sicherheitskonferenz

Wolfgang Ischinger auf der 50. Münchner Sicherheitskonferenz

Im Frühjahr 2008 wurde er auf eigenen Antrag vom Auswärtigen Dienst beurlaubt, um dem Wunsch der Bundesregierung Merkel entsprechend den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) als Nachfolger von Horst Teltschik zu übernehmen.

Von Mai 2008 bis Dezember 2014 war er „Generalbevollmächtigter für Regierungsbeziehungen“ für den neu geschaffenen Bereich der Allianz SE in München („Global Head of Government Relations“).[6] 2014 war er Vertreter des Chairman-in-Office der OSZE für den nationalen Dialog an Runden Tischen in der Ukraine (siehe Krieg in der Ukraine seit 2014). Seit 2015 ist er Vorsitzender des „Panel of Eminent Persons on European Security as a Common Project“, einer OSZE-Kommission für Europäische Sicherheit.

Ab 2022 ist Christoph Heusgen sein Nachfolger in der Leitung der Münchner Sicherheitskonferenz.

Honorarprofessur

Im Sommersemester 2009 war Ischinger Lehrbeauftragter am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und leitete dort ein Seminar zum Thema „Moderne Krisendiplomatie“.[7]

Seit April 2011 ist Ischinger Honorarprofessor[8] am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er leitet Seminare zum Thema Krisendiplomatie. Seit 2015 lehrt er als Senior Professor for Security Policy and Diplomatic Practice[9] an der privaten Hertie School in Berlin.[10]

Sonstiges

Ischinger gehört zu den Unterstützern der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union, die Ende November 2016 veröffentlicht wurde.

Familie

Ischinger ist in zweiter Ehe mit der Journalistin und Autorin Jutta Falke-Ischinger verheiratet und hat drei Kinder. Seine erste Frau Barbara Ischinger war bis 2014 Bildungsdirektorin der OECD in Paris.

Außenpolitische Rolle

Ischinger hat in mehreren Schlüsselpositionen des Auswärtigen Diensts mitgewirkt an der Formulierung und Gestaltung der deutschen Balkan-Politik, insbesondere in Bosnien und im Kosovo, bei der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen NATO und Russland, ebenso wie bei den Erweiterungsprozessen der Europäischen Union und der NATO. Er war Mitglied der von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Wladimir Putin eingesetzten hochrangigen Deutsch-Russischen Strategischen Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Finanzen (SAG) im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie mit dem Ziel einer verstärkten bilateralen Zusammenarbeit.

Die Arbeit im Planungsstab des Auswärtigen Amts (1977–1979 und 1993–1995) ermöglichte Ischinger konzeptionelles außenpolitisches Arbeiten, das sich u. a. in Veröffentlichungen in deutschen, englischen und französischen Fachzeitschriften niederschlug. Besondere Aufmerksamkeit widmete er Grundfragen deutscher Außenpolitik, wie z. B. der Frage nach der Definition deutscher Interessen, der deutschen Sicherheits- und Abrüstungspolitik, der Fortentwicklung der Europapolitik und des Verhältnisses zu Russland, der Schritte zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, ebenso wie Fragen regionaler Krisenpräventionspolitik, insbesondere auf dem Balkan.

Unter anderem war Ischinger 1995 mit dem damaligen US-amerikanischen Sonderbeauftragten für den Balkan Richard Holbrooke am Zustandekommen des Friedensvertrages von Dayton für Bosnien-Herzegowina beteiligt.

Von Juli bis Dezember 2007 vertrat Ischinger die Europäische Union in den sogenannten Troika-Verhandlungen (gemeinsam mit USA und Russland) mit Belgrad und Pristina über die Zukunft des Kosovo.[11] Ischinger meldet sich regelmäßig in den außen- und sicherheitspolitischen Debatten zu Wort, unter anderem mit einer monatlichen Kolumne auf der Homepage der Münchner Sicherheitskonferenz.[12]

2009 forderte er mehr europäische Unterstützung für US-Präsident Barack Obama und setzte sich für ein stärkeres europäisches Engagement in Afghanistan ein.[13]

Als Mitglied der Global-Zero-Kommission engagiert er sich für die Vision einer nuklearfreien Welt.[14] Wiederholt war er Teilnehmer der Bilderberg-Konferenz und des Weltwirtschaftsforums sowie Konferenzleiter des Berliner Demografie Forums.

Seit 2019 ist er Vorsitzender der Transatlantischen Task Force des German Marshall Funds und der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung.[15]

Mitgliedschaften

Auszeichnungen

  • Ischinger wurde zum Kommandeur der französischen Ehrenlegion ernannt.

Kontroverse

Im Februar 2022 wurde publik, dass Ischinger entgegen eigenen Behauptungen – laut denen er die Münchener Sicherheitskonferenz ehrenamtlich leitet und lediglich eine Aufwandsentschädigung erhält – über seine Beratungsfirma Agora Strategy Group AG an der Münchner Sicherheitskonferenz verdiente.[21] Wie der Spiegel berichtete, habe die Firma, an der Ischinger 30 Prozent hält, Termine und Kontakte auf der Konferenz zum Verkauf angeboten.[22] Ischinger wies die Vorwürfe eines Interessenkonflikts zurück.[23]

Schriften (Auswahl)

  • mit Kurt Hesse: Die Entwicklungsschwelle. Der Übergang vom Entwicklungsland zum entwickelten Land unter Einbeziehung von 3 Testfällen. Mit 84 Tabellen. Duncker und Humblot, Berlin 1973. ISBN 3-428-02957-7.
  • Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach Amsterdam (= Zentrum für Europäische Integrationsforschung: Discussion paper. C 14). Zentrum für Europäische Integrationsforschung, Bonn 1998. ISBN 3-933307-14-7.
  • Igor Ivanov, Sam Nunn (Hrsg.): Toward a Euro-Atlantic Security Community. Final Report of the Euro-Atlantic Security Initiative. Carnegie Endowment for International Peace, Washington, D.C. 2012.
  • mit Des Browne, Igor Ivanov, Sam Nunn (Hrsg.): Building Mutual Security in the Euro-Atlantic Region. Report Prepared for Presidents, Prime Ministers, Parliamentarians, and Publics. Nuclear Threat Initiative, Washington, D.C. 2013.
  • (Hrsg.): Towards Mutual Security. Fifty Years of Mutual Security. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen u. a. 2014, ISBN 978-3-525-30054-1.
  • Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten. Econ Verlag. 2018.

Literatur

  • Wolfgang Ischinger, in: Internationales Biographisches Archiv 14/2014 vom 1. April 2014 (la) Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 14/2015, im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar).

Weblinks

Commons: Wolfgang Ischinger – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Stadt Nürtingen. territorial.de, abgerufen am 9. Februar 2022.
  2. Wolfgang Ischinger 70 Jahre. hertie-school.org, 6. April 2016, abgerufen am 9. Februar 2022.
  3. a b Ischinger wird neuer Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. spiegel.de, 10. Februar 2008, abgerufen am 14. Februar 2022.
  4. Wolfgang Ischinger. koerber-stiftung.de, 4. November 2019, abgerufen am 10. Februar 2022.
  5. „Zug in die Freiheit“: Wie die Flüchtlinge aus Prag in den Westen kamen. Thüringische Landeszeitung vom 1. Oktober 2014 (abrufbar ohne Paywall).
  6. Allianz SE ernennt Global Head of Governmental Affairs. 18. Februar 2008 (online [abgerufen am 6. November 2013] Pressemitteilung der Allianz Group).
  7. Oliver Rolofs, Tauwetter in den internationalen Beziehungen – 45. Münchner Sicherheitskonferenz läutet politischen Frühling ein (Memento vom 12. Februar 2010 im Internet Archive).
  8. Honorarprofessorinnen und -professoren (Memento vom 6. September 2015 im Internet Archive), Eberhard Karls Universität Tübingen, abgerufen am 17. September 2015.
  9. Prof. Dr. h.c. Wolfgang Ischinger, Hertie School of Governance, abgerufen am 17. September 2015.
  10. Wolfgang Ischinger übernimmt Professur an der Hertie School (Memento vom 10. Mai 2015 im Internet Archive) Pressemitteilung der Hertie School of Governance, 23. Februar 2015.
  11. EU ernennt Ischinger, n-tv.de.
  12. Teilnehmer – Munich Security Conference. 7. Februar 2015, abgerufen am 19. Februar 2022.
  13. Wolfgang Ischinger, Sein Scheitern wäre auch unser Scheitern, in: The European, 28. Oktober 2009; sowie: Wolfgang Ischinger und Timo Noetzel, Afghanistan darf nicht scheitern (Memento vom 10. Februar 2010 im Internet Archive), Monthly Mind Oktober 2009.
  14. Website der Global Zero Commission (Memento vom 17. September 2009 im Internet Archive).
  15. Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung und German Marshall Fund gründen „Transatlantic Task Force“. Abgerufen am 27. April 2020 (deutsch).
  16. Wolfgang Ischinger - Nürtinger Zeitung. In: ntz.de. Nürtinger Zeitung, 23. Oktober 2010, abgerufen am 19. Februar 2022.
  17. tagesspiegel.de: Bundesverdienstkreuz Das Kreuz haben sie sich verdient, 5. Oktober 2009.
  18. 2016 Spring Conferment of Decorations on Foreign Nationals, Internetseite des japanischen Außenministeriums (englisch).
  19. Nunn-Lugar Award Honors German Peacemaker, abgerufen am 21. Februar 2018.
  20. Europaminister Dr. Florian Herrmann zeichnet Wolfgang Ischinger mit der Bayerischen Europamedaille aus. Bayerische Staatsregierung, 2. Dezember 2019, abgerufen am 6. Dezember 2019.
  21. Sven Becker, Rafael Buschmann, Nicola Naber, Christoph Schult, Keno Verseck: Wolfgang Ischinger: Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und seine diskreten Geschäfte mit den Mächtigen. In: Der Spiegel. Band 08/2022, 17. Februar 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 17. Februar 2022]).
  22. Markus Decker: Münchner Sicherheitskonferenz: Wolfgang Ischinger im Zwielicht. In: rnd.de. RND, 18. Februar 2022, abgerufen am 19. Februar 2022.
  23. Sicherheitskonferenz: Ischinger bestreitet Interessenvermischung. In: sueddeutsche.de. Süddeutsche Zeitung, 18. Februar 2022, abgerufen am 18. Februar 2022.
VorgängerAmtNachfolger
Jürgen ChrobogDeutscher Botschafter in den Vereinigten Staaten
2001–2006
Klaus Scharioth
Thomas MatussekDeutscher Botschafter im Vereinigten Königreich
2006–2008
Georg Boomgaarden