Reichstagswahl 1890
Die Reichstagswahl 1890 war die Wahl zum 8. Deutschen Reichstag. Sie fand am 20. Februar 1890 statt. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp über 71 % und war damit niedriger als bei der Reichstagswahl 1887.
Bedeutung
Es war die erste Reichstagswahl in der Amtszeit von Kaiser Wilhelm II. Entsprechend stand sie im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen dem neuen Kaiser, der sich anders als sein Großvater Wilhelm I. in die Tagespolitik einmischte, und Reichskanzler Otto von Bismarck. Zu dieser Zeit war der Kaiser vor allem darauf aus, ein gutes Verhältnis zur Arbeiterschaft aufzubauen. Gegen den Widerstand Bismarcks, der dies als Zugeständnis an die Sozialdemokratie sah, hatte Wilhelm II. Anfang Februar eine Arbeitsschutzgesetzgebung eingeleitet. Bereits am 25. Januar war Bismarck im alten Reichstag damit gescheitert, das Sozialistengesetz unbegrenzt verlängern zu lassen. Diese Niederlage kam auch dadurch zustande, dass die „Kartellparteien“ (Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale), die sonst Bismarck stützten, innerlich zerstritten waren, was wiederum daran lag, dass der Kaiser seine Ablehnung der Verlängerung des Sozialistengesetzes hatte durchblicken lassen.
Die Wahl wurde eine katastrophale Niederlage für die „Kartellparteien“, die 85 Mandate einbüßten, und ein Sieg für die Sozialdemokraten. Diese konnten ihren Stimmenanteil im Vergleich zur letzten Reichstagswahl auf 19,7 % praktisch verdoppeln (etwa 1,4 Millionen Stimmen) und wurden damit zum ersten Mal die nach Stimmen stärkste Partei. Im Londoner Exil wertete Friedrich Engels den Wahltag euphorisch als den „Tag des Beginns der deutschen Revolution“.[1] Aufgrund der Verzerrungen infolge des Mehrheitswahlrechts, das die dicht besiedelten Regionen stark benachteiligte, und aufgrund des Umstandes, dass sozialdemokratische Kandidaten in Stichwahlen häufig einer gemeinsamen Front der bürgerlichen Parteien gegenüberstanden, konnten die Sozialdemokraten aber nur 35 Mandate gewinnen. Dabei gewannen sie die Großstädte Königsberg, Bremen, Hannover, Magdeburg, Frankfurt am Main, Mannheim, Nürnberg und München. Alle drei Hamburger, zwei der sechs Berliner und einer der beiden Breslauer Wahlkreise wurden von ihnen gewonnen. Später im selben Jahr wurde das Sozialistengesetz endgültig aufgehoben, die Partei benannte sich in SPD um. Stärkste Fraktion blieb das Zentrum, das bei einem Gesamtstimmenanteil von 18,6 % 106 Wahlkreise (27,2 %) gewann. Die linksliberalen Parteien gewannen ebenfalls an Stimmen und Parlamentssitzen deutlich hinzu.
Zum ersten Mal gewannen in einigen Wahlkreisen Elsaß-Lothringens Angehörige deutscher Parteien Mandate. Anderswo konnten Regionalisten aber von der Schwäche der Kartellparteien profitieren. Die Antisemiten erhielten zwar nur 0,7 % der Stimmen, gewannen aber 5 Wahlkreise. Ihre Hochburgen waren das Großherzogtum Hessen und Hessen-Nassau.
Einen Monat nach der Reichstagswahl wurde Bismarck entlassen. Sein Nachfolger Leo von Caprivi regierte mit wechselnden Mehrheiten. Der 8. Reichstag, der eigentlich als erster eine Legislaturperiode von fünf Jahren gehabt hätte – die Verlängerung von drei auf fünf Jahre war am 18. März 1888 beschlossen worden –, wurde aber schon 1893 wieder aufgelöst.
Ergebnisse
Politische Richtung | Parteien | Wählerstimmen | Sitze im Reichstag[2] | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
in Mio. | Anteil | ggüb. 1887 | absolut | Anteil | ggüb. 1887 | ||||
Konservative | Deutschkonservative Partei (DKP) | 0,895 | 12,4 % | −2,8 % | 73 | 18,4 % | −7 | ||
Deutsche Reichspartei (DRP) | 0,482 | 6,7 % | −3,1 % | 20 | 5,0 % | −22 | |||
Liberale | Rechts- | Nationalliberale Partei (NLP) | 1,178 | 16,3 % | −5,9 % | 41 | 10,3 % | −56 | |
Unabhängige Liberale | n/a | n/a | n/a | 3 | 0,8 % | ±0 | |||
Links- | Deutsche Freisinnige Partei (DFP) | 1,160 | 16,0 % | +3,1 % | 66 | 16,6 % | +34 | ||
Deutsche Volkspartei (DtVP) | 0,148 | 2,0 % | +0,8 % | 10 | 2,5 % | +10 | |||
Katholiken | Zentrumspartei | 1,342 | 18,6 % | −1,5 % | 106 | 26,7 % | +8 | ||
Sozialisten | Sozialdemokraten (SAP) | 1,427 | 19,7 % | +9,6 % | 35 | 8,8 % | +24 | ||
Regionalparteien, Minderheiten |
Deutsch-Hannoversche Partei (DHP) | 0,113 | 1,6 % | +0,1 % | 11 | 2,8 % | +7 | ||
Polen | 0,247 | 3,4 % | +0,5 % | 16 | 4,0 % | +3 | |||
Dänen | 0,014 | 0,2 % | ±0,0 % | 1 | 0,3 % | ±0 | |||
Elsaß-Lothringer | 0,101 | 1,4 % | −1,7 % | 10 | 2,5 % | −5 | |||
Antisemiten | Antisemitische Volkspartei (AVP) | 0,048 | 0,7 % | +0,5 % | 4 | 1,0 % | +3 | ||
Deutschsoziale Partei (DSP) | 1 | 0,3 % | +1 | ||||||
Sonstige | 0,075 | 1,0 % | +0,4 % | - | - | ±0 | |||
Gesamt | 7,229 | 100 % | 397 | 100 % |
Gewählte Abgeordnete nach Wahlkreisen
In jedem der insgesamt 397 Wahlkreise wurde nach absolutem Mehrheitswahlrecht ein Abgeordneter gewählt. Wenn kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichte, wurde eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten durchgeführt. In den folgenden Tabellen werden die Wahlkreissieger und ihre im amtlichen Endergebnis genannte Parteistellung angegeben.[2]
Preußen
Bayern
Sachsen
Württemberg
Baden
Großherzogtum Baden | ||||
---|---|---|---|---|
1 | Konstanz, Überlingen, Stockach | Friedrich Hug | Zentrum | |
2 | Donaueschingen, Villingen | Hermann von Hornstein | DKP | |
3 | Waldshut, Säckingen, Neustadt im Schwarzwald | Joseph Schuler | Zentrum | |
4 | Lörrach, Müllheim | Karl Lauck | Zentrum | |
5 | Freiburg, Emmendingen | Ludwig Marbe | Zentrum | |
6 | Lahr, Wolfach | Friedrich Schaettgen | Zentrum | |
7 | Offenburg, Kehl | Maximilian Wilhelm Reichert | Zentrum | |
8 | Rastatt, Bühl, Baden-Baden | Franz Xaver Lender | Zentrum | |
9 | Pforzheim, Ettlingen | Adolf Dillinger | DtVP | |
10 | Karlsruhe, Bruchsal | Markus Pflüger | DFP | |
11 | Mannheim | August Dreesbach | SAP | |
12 | Heidelberg, Mosbach | Julius Menzer | DKP | |
13 | Bretten, Sinsheim | Wilhelm von Douglas | DKP | |
14 | Tauberbischofsheim, Buchen | Rudolf von Buol-Berenberg | Zentrum |
Hessen
Großherzogtum Hessen | ||||
---|---|---|---|---|
1 | Gießen, Grünberg, Nidda | Wilhelm Pickenbach | Antisemiten (AVP) | |
2 | Friedberg, Büdingen, Vilbel | Egidius Gutfleisch | DFP | |
3 | Lauterbach, Alsfeld, Schotten | Oswald Zimmermann | Antisemiten (AVP) | |
4 | Darmstadt, Groß-Gerau | Arthur Osann | NLP | |
5 | Offenbach, Dieburg | Carl Ulrich | SAP | |
6 | Erbach, Bensheim, Lindenfels, Neustadt im Odenwald | Ferdinand Scipio | NLP | |
7 | Worms, Heppenheim, Wimpfen | Heinrich von Marquardsen | NLP | |
8 | Bingen, Alzey | Ludwig Bamberger | DFP | |
9 | Mainz, Oppenheim | Franz Jöst | SAP |
Kleinstaaten
Elsaß-Lothringen
Die parteipolitische Zuordnung der Abgeordneten folgt den Ausführungen von Hermann Hiery.[3]
Reichsland Elsaß-Lothringen | ||||
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1 | Altkirch, Thann | Landolin Winterer | Individualkandidat d. polit. Katholizismus | |
2 | Mülhausen | Charles Hickel | SAP | |
3 | Kolmar | Charles Grad | Individualkandidat d. polit. Katholizismus | |
4 | Gebweiler | Joseph Guerber | Individualkandidat d. polit. Katholizismus | |
5 | Rappoltsweiler | Jacob Ignatius Simonis | Individualkandidat d. polit. Katholizismus | |
6 | Schlettstadt | Irénée Lang | Individualkandidat d. polit. Katholizismus | |
7 | Molsheim, Erstein | Hugo Zorn von Bulach | DKP | |
8 | Straßburg-Stadt | Emil Petri | NLP | |
9 | Straßburg-Land | Jean North | NLP | |
10 | Hagenau, Weißenburg | Eugène de Dietrich | E.-L. Protestpartei | |
11 | Zabern | Johannes Hoeffel | DRP | |
12 | Saargemünd, Forbach | Johann Mangès | Individualkandidat d. polit. Katholizismus | |
13 | Bolchen, Diedenhofen | Julius Joseph Neumann | Individualkandidat d. polit. Katholizismus | |
14 | Metz | Johannes Michael Dellès | Individualkandidat d. polit. Katholizismus | |
15 | Saarburg, Château-Salins | Peter Küchly | Individualkandidat d. polit. Katholizismus |
Die Fraktionen des 8. Reichstags
Im 8. Reichstag schlossen sich mehrere Abgeordnete nicht der Fraktion ihrer eigentlichen Partei an und blieben zum Teil fraktionslos. Sieben DHP-Abgeordnete traten der Zentrumsfraktion bei. Am Beginn der 8. Legislaturperiode besaßen die Reichstagsfraktionen die folgende Stärke:[4]
Zentrum | 113 |
Deutschkonservative | 71 |
Freisinnige | 64 |
Nationalliberale | 41 |
Sozialdemokraten | 35 |
Freikonservative | 20 |
Polen | 16 |
Deutsche Volkspartei | 10 |
Fraktionslose | 27 |
Im weiteren Verlauf der Legislaturperiode änderte sich aufgrund von Nachwahlen und Fraktionswechseln mehrfach die Stärke der einzelnen Fraktionen.
Siehe auch
Literatur
- Carl-Wilhelm Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen 1890–1918. Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 15). Droste, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7700-5284-4.
Weblinks
- Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reichs (PDF; 161 kB)
- Ergebnis der Reichstagswahl 1890 mit Grafik
- Wahlen in Deutschland bis 1918, dort:
- Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern, dort:
Einzelnachweise
- ↑ Brief Friedrich Engels an Laura Lafargue, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band 37. Berlin, 1967, S. 359–61. Abgedruckt in: Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996, S. 189–91.
- ↑ a b Kaiserliches Statistisches Amt (Hrsg.): Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reiches, Jahrgang 1890, Heft 4. Berlin 1890.
- ↑ Hermann Hiery: Reichstagswahlen im Reichsland. Ein Beitrag zur Landesgeschichte von Elsaß-Lothringen und zur Wahlgeschichte des Deutschen Reiches 1871–1918. Droste Verlag Düsseldorf. 1986, S. 446–448 ff Tabelle 50: Politische Gruppierungen und Parteien in Elsaß-Lothringen und S. 449 ff: Anhang: Biographisches Verzeichnis der im Reichsland Elsaß-Lothringen gewählten Abgeordneten des Deutschen Reichstages 1874–1918. ISBN 3-7700-5132-7.
- ↑ Reichstagshandbuch 1890. (PDF) Münchener Digitalisierungszentrum, S. 284, abgerufen am 20. November 2009.